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Oktober 1855
des gegenwärtigen systemes und von den tendenzen der Partey des fort-
schrittes eine nähere notiz zu nehmen. nach england zu gehen, solange ich
keinen bessern grund dafür habe als ein paar freundschaftliche einladun-
gen, halte ich nicht für angezeigt.
lady lucy gordon und ihre mutter mrs. Austin, die seit einigen ta-
gen hier bey ihr war, gehen morgen ab, letztere ist plus Autrichienne que
moi. neulich war ich einen Abend mit cousin, mignet und Barthélemy st.
hilaire bey ihr, es ist lächerlich, mit welcher vornehmen Protection die bey-
den erstern, namentlich aber cousin von der Wissenschaft und geschichts-
schreibung in deutschland sprechen, letzerer behauptete, deutschland sey
moralisch und geistig im verfall, was wäre dann von frankreich zu sagen?
namentlich aber in der geschichtschreibung sind die franzosen, mit ein-
ziger Ausnahme guizots, nicht übers romanschreiben hinausgekommen,
und thiers, mignet & c. sind ebensogut historiker wie Paul de kock.
ich denke, wir werden nächstens von neuen bedeutenden operationen
in der crim hören, das Publikum (nicht der kaiser) in frankreich sind
entschieden friedlich, vor Allem die orléanisten und legitimisten, die sich
über l. napoléons glück zu tode ärgern, dann alle geld- und Börsenmän-
ner, und durch die critische materielle lage nimmt die Zahl der friedens-
freunde natürlich zu. Aber an rußland liegt wieder der hauptanstoß. denn
dort scheint man entschlossener, beynahe fanatischer als je und weiß, daß
man ganz mitteleuropa und fast alle kleinen staaten für sich hat. redcliffe
soll dem französischen Einflusse in London erliegen, wie überhaupt Eng-
land nach und nach ans schlepptau kömmt. gegen redcliffe scheint mir
nebstdem noch eine kleine intrigue im Werke zu seyn, an der howden, sir
h. Bulwer und meine freundin norton arbeiten.
ich sah mir neulich den louvre und die darin zum theile neu aufgestell-
ten muséen an, die ihres gleichen in der Welt nicht haben. Auch die Aztecs,
diese räthselhaften mißgestalten, sah ich gestern im hippodrome,1 ich bin
dießmal nur wenig dazu gekommen, sehenswürdigkeiten zu besichtigen
oder selbst in die theater zu gehen, da ich fast alle Abende entweder bey
mrs. norton oder irgendwo mit ihr zubringe, viel angenehmer natürlich,
obwohl auch ihr umgang mich nichts weniger als befriedigt, ihr größter
reiz (von den positiven politischen Zwecken meines verhältnisses zu ihr
natürlich ganz abgesehen) besteht in ihren interessanten erinnerungen,
in der politischen Bedeutung des kreises, in welchem sie lebt, und in ei-
ner außerordentlich verfeinerten und gewählten Ausdrucksweise, das ist
1 die als letzte Abkömmlinge der Azteken angepriesenen „vogelköpfe“ (mikrozephale) ma-
ximo und Bartola wurden erstmals 1849 in New York und seit 1853 in Europa zur Schau
gestellt, unter anderem auch von mai bis Juli 1856 in Wien.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien