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Februar 1856
er es leichter zu nehmen, und ich werde dadurch meinen committenten ge-
genüber in eine unangenehme lage kommen, ich werde aber dabey Bruck
gewiß nicht schonen, er verdient es nicht.
meine Brochure über die reform der inneren verwaltung nimmt nach und
nach größere dimensionen an und dürfte, anstatt vor das große Publikum
zu treten, zu einem mémoire werden, welches unter der voraussetzung, daß
Bruck, sobald die Wahrscheinlichkeit des friedens zunimmt, als Premier
auftreten und handeln werde, diesem und vielleicht dem kaiser überreicht
werden soll, was bey den gegenwärtigen verhältnissen allerdings der prac-
tischere Weg wäre. dazu muß der Aufsatz in entsprechender Weise umge-
arbeitet und vervollständigt werden, woran ich eben arbeite. das Alles habe
ich wiederholt mit kleyle, sommaruga und Anderen besprochen, es ist nur
die frage, ob Bruck auch wirklich den muth und charakter hat, die ihm
hierbey zugedachte rolle zu übernehmen? viele wollen daran zweifeln und
bleiben dabey, ihn lediglich für einen charlatan und speculanten für den
eigenen säckel zu halten.
Auch mit grünne habe ich in diesen tagen wieder einmahl zu sprechen
gelegenheit gehabt, und zwar in demselben sinne wie ende october,1 er war
wieder voll freundlichkeit und entgegenkommen, doch hielt ich es dießmal
für angezeigt, auch meinerseits die größte Bereitwilligkeit zu zeigen, wäh-
rend ich mich damals ganz passiv verhalten hatte. man muß die saiten nicht
zu straff spannen. doch erklärte ich ihm zugleich, daß ich zu keinem mi-
nister gehen, überhaupt bey niemand Anderem irgend einen schritt thun
würde als bey seiner majestät selbst.
oettl ist nach einer schmerzvollen krankheit gestorben, ein mann, der
nicht ohne Bedeutung für mein leben war, und leider einer von den vielen,
denen ich durch die politischen konstellationen der letzten Jahre fremd ge-
worden war.
[Wien] 23. februar
Bis vor wenig tagen hatten wir schönes warmes Wetter wie im April, jetzt
wieder abwechselnd schnee, thauwetter und Wind. doch scheint es, als soll-
ten wir bald frühling bekommen.
die conferenzen in Paris beginnen übermorgen, man lebt hier noch im-
mer im friedenstaumel und will an keine fortsetzung des krieges glauben.
doch scheint mir, als ob die vorbothen eines sturmes sich allmählig mehr-
ten. die Zuziehung Preußens, nicolajeff, die asiatischen fragen2 etc. geben
1 vgl. eintrag v. 25.10.1855.
2 gemeint sind die teilnahme Preußens an den friedensverhandlungen in Paris, der Wie-
deraufbau des im krimkrieg zerstörten russischen kriegshafens nikolajev sowie die frage
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien