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März 1856
Wir haben neulich die erste sitzung des provisorischen verwaltungsrathes
für die Westbahn gehabt, es sind jetzt vor Allem die finanziellen fragen zu
regeln, und da halte ich mich ferne, da ich sie nicht verstehe und auch sonst
nicht eingreifen will. gabrielli ist von Paris hieher gekommen, um wo mög-
lich noch etwas aus dem schiffbruche zu retten, doch hat er nun eine Art von
entschädigung durch eine Betheiligung bey der theissbahn erhalten, wozu
ich ihm sehr behülflich war, nebstbey hat er noch eine menge anderer Pro-
jekte mitgebracht, u.a. das einer Wasserleitungsanstalt für Wien und die grö-
ßeren städte der monarchie. Bruck möchte, daß ich mich dabey voran stelle,
doch habe ich es abgelehnt, diese sache sieht einer speculation denn doch zu
ähnlich, als daß ich mich bey meiner stellung und meinen Antecedentien da-
bey betheiligen könnte, obwohl ich sie als eine sehr zweckmäßige nach kräf-
ten unterstützen will. eisenbahn- oder ähnliche unternehmungen sind etwas
ganz Anderes, und ich will nicht auch der Jüdeley und dem schacherwesen
des tages verfallen, sondern ein politischer character bleiben, rein und ge-
achtet, selbst wenn ich zu etwas Anderem taugte, was nicht der fall ist.
von meinem mémoire hat Bruck gegen mich noch nicht ein Wort erwähnt,
und ich will ihn nicht drängen. ohnehin kömmt die Zeit für dergleichen erst
dann, wenn der erste taumel des jetzigen speculationsfiebers verflogen ist.
[Wien] 27. märz
man erwartet jeden tag die nachricht vom Abschlusse des friedens, son-
derbarer Weise aber fallen die Papiere anstatt zu steigen, es wird ein fau-
ler friede, denn die Juden und spekulanten haben ihn gemacht. rußland
hat ganz richtig calculirt, der friedensrausch, die speculationswuth war
seit 2 monathen so mächtig geworden, daß keine regierung (die englische
ausgenommen) ihr zu widerstehen wagte. frankreich und rußland sind ei-
nig, wir sind isolirter als jemals, und england hat sich unwillig zum frieden
bequemt, hoffen wir also, daß daraus eine feste Allianz zwischen uns und
england entstehe, denn es ist sehr leicht möglich, daß der friede von kurzer
dauer sey, er hat keine frage definitiv gelöst, nicht die türkische, nicht die
deutsche, und l. napoléon ist eine sehr ephemere größe.
er fängt auch, nun er uns nicht mehr braucht, schon an, uns auf die füße
zu treten, so z.B. durch sein so eben erlassenes verboth, fremde effekten
an der Pariser Börse zu notiren. Buol hat in Paris eine ziemlich secundaire
rolle gespielt, und ich glaube, seine stellung hier wird nicht mehr sehr lange
dauern. Bruck wird ihm ein Bein unterschlagen, obwol er mir noch heute
entschieden in Abrede stellte, daß er es ambitionire, sein nachfolger zu wer-
den, ich aber weiß, daß er schon seit lange dahin trachtet.
ich habe diesen Abend eine lange unterredung mit ihm gehabt, auch er
glaubt nicht an den Bestand des friedens, meint aber, daß es ihm gelingen
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien