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März 1856
oder vielmehr die bereits aller orten bestehende, beynahe alle intelligenten
männer der besitzenden classen umfassende Partey organisiren und sich
erst selber zum Bewußtseyn bringen.
schließlich predigte ich mein ewiges thema von der englischen Allianz
und fand offenere ohren, als ich erwartet hatte. dazu wäre aber vor Allem
die Wahl eines besseren vertreters nöthig als die so eben getroffene des ganz
unbedeutenden rud. Apponyi.
es ist kaum zu vermeiden, daß man bey solchen conversationen die rolle
eines Predigers pour sa paroisse spielt, obwol ich meine Person geflissentlich
ganz aus dem spiele ließ.
im ganzen hat mir diese 1 1/2 stündige unterredung den eindruck zu-
rückgelassen, daß Bruck im großen und Wesentlichen meine Ansichten voll-
kommen theilt, jedoch über das détail fast überall im unklaren ist, daß er
einen brennenden ehrgeiz hat, an die spitze der regierung zu treten, und
daß er in Betreff seiner speciellen Aufgabe: der regelung unserer finan-
zen, die größte Zuversicht des gelingens hat. die volkswirthschaftlichen
Zustände, die Passivität unserer handelsbilanz, den allmäligen ruin un-
serer industrie, welche nie mehr unter geldnoth und andern ungünstigen
verhältnissen litt als jetzt, wo schwindel und speculation alle capitalien
absorbiren und das einströmen fremder capitalien durch die allenthalben
bestehenden gleichartigen ursachen immer unwahrscheinlicher wird, end-
lich die unsicherheit aller finanziellen maaßregeln unter dem herrschenden
politischen systeme, Alles dieses und manches Andere scheint er viel zu ge-
ringe anzuschlagen. er spricht zwar auch in dieser letzteren Beziehung viel
von seinem festen Willen, von einem entweder oder, doch halte ich das Alles
nach dem, was ich bisher von ihm gesehen, ziemlich für Phrase.
ich glaube daher, es wird nothwendig seyn, einen fortwährenden und von
mehreren seiten ausgehenden druck auf ihn auszuüben.
der conflict mit rom, diese erste frucht des concordates, wird ziemlich
ernsthaft und dreht sich gegenwärtig darum, wer den vorsitz bey der am 6.
April hier zu eröffnenden Bischöfeversammlung führen solle? rom hat den
nuntius dazu ernannt, thun, der schafskopf, ist ganz betroffen über die un-
erwartete (!) Wendung der dinge, und so soll auch der kaiser seyn,1 man
1 Zur allgemeinen Bischofsversammlung, die am 6.4.1856 zur Beratung der umsetzung des
konkordats eröffnet wurde, hatten sowohl kultusminister graf leo thun (am 31. Jänner)
als auch Pronuntius kardinal michele viale-Prelà (am 6. märz) eingeladen. die im schrei-
ben des Pronuntius enthaltene stelle, er würde in der versammlung im namen und in der
Autorität des Papstes den vorsitz übernehmen, führte zu einer kontroverse mit der öster-
reichischen regierung, die diesen Anspruch als eingriff in die kaiserlichen rechte ansah.
schließlich einigte man sich darauf, dass kardinal viale-Prelà immer dann den vorsitz
haben solle, wenn er einen speziellen Auftrag des Papstes ausführe. dagegen präsidierten
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien