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Tagebücher260
so will ich mich auf etwaige politische eventualitäten rüsten, obschon
ich in dieser Beziehung keine nahe Aussicht sehe, der einzige, von dem
etwas in dieser Beziehung zu erwarten wäre, Bruck, ergibt sich immer
ausschließlicher der Projektemacherey und dem schwindel und beschwört
nach und nach einen sturm gegen sich herauf, dem er vielleicht unterlie-
gen wird.
[Wien] 21. may
es ist schon so ziemlich sommer, wenn auch erst seit einigen tagen, die
erste hälfte may war regnerisch, windig und kühl. die stadt leert sich, und
viele gehen nach Paris, wohin sich der Zug alljährlich mehrt. Paris wird
immer mehr die hauptstadt des kontinents, Wien aber immer mehr dorf,
durch dummheit und mißregierung.
die Befürchtungen einer russisch französischen Allianz sind durch den
separatvertrag zwischen uns und den Westmächten vom 15. April wieder
in den hintergrund getreten.1 die russische diplomatie scheint hier wieder,
wie dieß schon seit einigen Jahren ihr loos ist, Böcke geschossen zu haben,
und ihr scharwenzeln in Paris ist ganz würdelos und ungeschickt. doch aber
glaube ich, daß sich nach einiger Zeit la force des choses et des intérêts Bahn
brechen und eine russisch französische Allianz herbeyführen. einstweilen
genießt louis napoléon seinen momentanen triumph, läßt sich von allen
seiten hofiren und gibt Allen gute Worte. rußland aber kokettirt sogar mit
sardinien, was das sicherste Zeichen seines bittern hasses gegen uns ist.
man spricht von einer Zusammenkunft der fünf großen souveräns, welche
im sommer in Berlin stattfinden soll.
Bruck ist auf 14 tage nach triest, fiume etc. verreist, und seitdem ruht
die ganze schwindelbagage aus, um nächstens wieder anzufangen. die ei-
senbahnprojekte, reell und ernstlich gemeint von den gutsbesitzern und
Provinzen, aber zum Börsenschwindel exploitirt durch die speculanten, häu-
fen sich, der streit zwischen den polnischen gutsbesitzern und der nord-
bahn um die galizischen Bahnen macht großen lärmen und dürfte nicht un-
möglicherweise toggenburg, der sich dabey höchst ungeschickt benommen
hat, an den hals gehen, auch darin bin ich von den Polen um vermittlung
bey Bruck angegangen worden, der sich aber dieser sache weislich (und
wohl auch weil rothschild im spiele ist) ziemlich ferne gehalten hat,2 dann
1 darin garantierten england, frankreich und österreich die unabhängigkeit und integri-
tät der türkei und erklärten, jede verletzung des Pariser friedens als kriegsgrund zu be-
trachten. das Abkommen wurde ausgelöst durch die Weigerung russlands, diese garantie
in den friedensvertrag aufzunehmen (vgl. eintrag v. 4.5.1856).
2 Als Bewerber für die übernahme der östlichen staatsbahnen und den weiteren Ausbau des
galizischen Bahnnetzes traten die „kaiser ferdinands-nordbahn“ (deren hauptaktionär
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien