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August 1856
ich verließ Wien am 24. Abends, fuhr ohne Aufenthalt über Prag, dres-
den, leipzig und frankfurt bis heidelberg, wo ich am 26. gegen mittag an-
kam, eine sehr ermüdende tour. Am 27. Abends kam diezel und verließ
mich am 28. nachmittags. Am 29. machte ich einen Ausflug von einigen
stunden über mannheim nach speyer, um den dom anzusehen.
gestern früh gab meyer ein déjeuner auf dem alten schlosse, wozu mich
gagern abholte, es war mein alter Bekannter aus london, colonel mure und
seine familie, robert mohl etc. da. gegen 1 uhr verließ ich heidelberg, un-
gern, man kann sich nicht leicht einen angenehmeren Aufenthalt denken,
die reizende natur, ein so mannigfaltiger und anregender gesellschaftlicher
kreis, dem auch das verschönernde element der damen nicht fehlt, und der
nebstdem durch die vielen dort lebenden englischen familien eine großstäd-
tische färbung bekömmt, ich wäre zufrieden, wenn ich nur die hälfte davon
in Wien hätte.
dritthalb stunden später war ich, ein contrast, wie er nicht leicht greller
gefunden werden dürfte, in BadenBaden, dem rendezvous aller nichtsthuer
und Abentheurer von europa, namentlich aber diesmal aller Pariser co-
rettes, übrigens reizend, elegant und bunt wie immer, da eben die verlo-
bungsfeyerlichkeiten in carlsruhe waren,1 so fand ich in dem gewühle von
menschen nur wenige Bekannte, darunter den ewig jungen gustav Blücher.
heute früh 11 uhr, nachdem ich noch auf der Promenade gefrühstückt und
an die vergangenen Zeiten gedacht hatte, wo ich mich dort so gut amusirte,
fuhr ich ab, über stuttgart und ulm hierher, wo ich gegen 9 ankam und in
den 3 mohren abstieg. morgen will ich den armen gelähmten kolb aufsuchen
und ihm wegen der haltung, nahmentlich aber wegen der hundsföttischen
Anglophobie der Allgemeinen Zeitung ein bischen den kopf waschen (obwol
ich an gar keinen erfolg meiner mercuriale denke) und dann über münchen
heimwärts ziehen. montag den 4. will ich in Wien seyn. die Westbahngesell-
schaft, die mich zu ihrem vicepräsidenten erwählt hat, erfordert meine An-
wesenheit, und auch diese jämmerliche italienische gesellschaft muß denn
doch endlich einmahl vom stapel laufen.
münchen 1. August
ich besuchte heute früh den guten alten kolb, den ich physisch gebrochen
und, obwohl er mich versicherte, dass er geistig noch vollkommen kräftig
sey, doch auch in dieser Beziehung verändert, wenigstens sehr still und
1 Prinz friedrich von Baden und Prinzessin luise v. Preußen, die tochter des thronfolgers
und seit 1861 königs Wilhelm, heirateten am 20.9.1856 in Berlin. friedrich war seit 1852
regent für seinen geisteskranken Bruder ludwig und nahm am 5. september, wenige tage
vor der hochzeit, den titel eines großfürsten an.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien