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anscheinend viel theilnahmsloser als sonst fand, ein trauriges Bild eines
zu grunde gehenden seltenen menschen, ich hatte ihn zuletzt in frankfurt
Anno 1848 gesehen. er bestand darauf, mir orges, den ich von constanti-
nopel aus kannte, vorzustellen, obwol gerade dieser der wahre chorführer
jener antienglischen Partey ist, die sich jetzt in der Allgemeinen Zeitung
breit macht und sich vornehmlich auf Bruck stützt, übrigens ist orges von
dieser seite abgesehen ein sehr gescheidter und kräftiger junger mann,
wir sprachen lange und sehr en détail namentlich über österreichische Zu-
stände, und ich sprach meine Ansichten mit der größten entschiedenheit
aus. kolb nahm wiederholte Anläufe, um mich zu einer directen oder indi-
recten theilnahme an den österreichischen Artikeln zu bewegen, mit dem
Bemerken, daß die Zeitung gegenwärtig sowohl gegenüber der österreichi-
schen regierung als cotta unabhängiger da stehe als seit langer Zeit, ich
aber antwortete, da orges ohnehin nächstens nach Wien käme, so möge er
die dortigen verhältnisse, auch in den Provinzen, sich erst genau ansehen,
und dann wollten wir weiter darüber sprechen. ich habe nicht die mindeste
lust darauf einzugehen, wenn ich wieder anfangen sollte, auf die Journa-
listik ein Augenmerk zu richten, was allerdings in meinen Plänen liegt, so
soll dieß in einem österreichischen und nicht in einem auswärtigen Blatte
geschehen.
die kirchlichen fragen, die wachsende macht des katholizismus und die
spaltungen im schooße des Protestantismus, der Plan des königs von Preu-
ßen, die union der beyden confessionen zu sprengen,1 und seine hinnei-
gung zu den Altlutheranern stahl, gerlach und consorten, Alles dieses be-
schäftigt jetzt deutschland in hohem grade, das österreichische concordat
spielt daher, so oft von oesterreich die rede ist, eine hervorragende rolle,
zur freude der Preußenfreunde, zur Bekümmerniß der unserigen, denn die
mißbilligung ist allgemein, daß dadurch ein Weg zum selfgovernment, zur
emancipation des individuums vom staatsdespotismus angebahnt worden
ist oder wenigstens werden kann, das sieht außer diezel keiner von Allen,
mit denen ich gesprochen, ein, oder legt doch keinen Werth darauf, das ist
eine traurige und unbegreifliche verblendung.
um 11 uhr fuhr ich ab und war um 1/2 2 hier. nachmittags besuchte ich
lerchenfelds, fand aber nur Auguste, die Anderen waren verreist, später
schlenderte ich herum und langweilte mich, zum ersten mahle, seit ich Wien
verlassen habe, das Bayern ist ein unerträgliches land, das Bier, die ge-
meinheit und die Beschränktheit stinken einen schon von Weitem an, und
ich werde froh seyn, wenn ich münchen morgen hinter mir haben werde.
1 die seit 1817 in Preußen bestehende union der lutheranischen und reformierten kirchen.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien