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April 1857
dergerissen und baut seitdem kartenhäuser. vor der hand also wären wir
wenigstens jener gefahr entronnen. über alle diese fragen aber darf in den
Zeitungen nicht gesprochen werden, und dürfte man, so wäre man, wenig-
stens von meinem standpunkte, in verlegenheit, von dieser freyheit ge-
brauch zu machen. es ist so gar nichts für die Bildung einer gesammtöster-
reichischen, vernünftig practischen richtung geschehen, man hat vielmehr
dadurch, daß man allen meinungsmannen gleichmäßig brutal auf die füße
trat, sie Alle sosehr erbittert, daß z.B. ein Blatt heute die idee der politischen
centralisation nicht verfechten könnte, ohne die liberalen und freunde des
selfgovernment ebensogut wie die separatisten und die ungarn zu verlet-
zen. ich schickte neulich aus Anlaß der unterdrückung meines Artikels über
die Besoldungsfrage1 grass zu lewinski (der höchsten Autorität in solchen
dingen), um zu sehen, ob er sich nicht mit Abänderungen und Weglassungen
doch geben ließe, er aber meinte: man dürfe überhaupt gegen Büreaukratie
und vielschreiberey nicht auftreten, da dieses das einzige mittel sey, um un-
garn zu amalgamiren!! das sind unsere Politiker. Abgesehen davon, daß eine
Amalgamation auf diesem Wege an sich eine unheilvolle wäre, vergessen sie
ganz darauf, daß sie dazu mindestens 20 Jahre tiefer ruhe haben müßten.
meine donnerstagssoiréen enden übermorgen, sie waren im ganzen recht
angenehm und oft sogar sehr interessant und anregend, aber die hauptsache,
die ich dabey im Auge hatte, ist mir doch nicht gelungen: nämlich eine ver-
ständigung und Annäherung anzubahnen zwischen den vernünftigen, gemä-
ßigten, praktischen männern der verschiedenen Provinzen, welche mit dem
Bestehenden unzufrieden, von dessen unhaltbarkeit überzeugt sind, aber
jeder für sich oder provinzweise isoliert boudiren und ebendeßhalb nichts be-
deuten und nichts erreichen. namentlich hatte ich dabey auf ungarn mein
Augenmerk gerichtet. so weit sind wir noch nicht, und es muß noch ärger
kommen. vielleicht wird das bis zum kommenden Winter der fall seyn.
[Wien] 26. April
der ganze monath April war schön und warm, ein vollkommen regelmäßiger
verlauf des frühlings, wie es auch der des dießjährigen Winters gewesen ist,
die Bäume sind schon fast so grün wie im sommer, und wie es seit lange um
diese Zeit nicht der fall war, nun haben wir aber gestern und heute starken
schneefall, und der schnee auf den grünen Blättern nimmt sich wunderlich
aus, auf die saaten aber und namentlich auf das obst wird die Wirkung eine
sehr schädliche seyn.
ich habe im Anfange dieses monats einen 8tägigen Abstecher nach gotha
gemacht, der herzog hatte mich wiederholt und erst neulich wieder durch
1 vgl. dazu eintrag v. 10.3.1857.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien