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Tagebücher306
samwer eingeladen, ihn zu besuchen, auch wollte ich ihm dafür danken,
daß er diezel auf meine empfehlung ein ruhiges obdach in gotha gewährt
hat, wollte zugleich mit diesem mich besprechen, indem in der letzten Zeit,
und zwar bey seiner weiten entfernung und geringen kenntniß der hiesigen
verhältnisse ganz natürlicherweise, seine verbindung mit dem Wanderer
etwas holprig geworden war, endlich aber fühlte ich das dringende Bedürf-
niß, wieder einmal luft zu verändern, und so benützte ich denn die char-
woche und osterfeyertage, wo ich hier weniger zu thun hatte, und fuhr am
8. ab, bis gotha in einem ritte, und kam am 10. morgens dort an, wo ich bis
13. blieb. der herzog nahm mich außerordentlich freundlich auf, ich aß alle
tage dort, einmal mit der ganzen familie von Augustenburg, war Abends im
theater in der hofloge etc., kurz wurde sehr zuvorkommend behandelt. er
ist immer der alte fürstliche revolutionär, unpraktisch und doctrinär, mit
einer starken dosis eitelkeit und ehrgeiz, dabey aber unläugbar ein mann
von bedeutenden kenntnissen und einer, in seinem stande ungewöhnlichen,
wahren humanität und einem bey fürsten ebenfalls seltenen muth, übri-
gens wie immer eine Art mouche du coche der europäischen Politik, bey uns
bewundert er – – – Bach und die büreaukratische centralisation, worin er
den übergang zu constitutionellen Zuständen erblickt!! von Allem Andern
macht ein fürst sich eher los als von dem hasse gegen die Aristocratie. von
Bekannten traf ich in gotha nur löwenstein (Wilhelm) und dingelstedt,
diezel und samwer natürlich ausgenommen, mit denen beyden ich sehr viel
verkehrte, zwischen denen jedoch der ganze Antagonismus des nord- und
süddeutschen hervortritt.
Am 13. reiste ich ab, hielt mich einen tag in Prag auf und war am 15.
Abends wieder hier, meine reisegefährtinn von Prag hieher war eine ganz
hübsche junge barmherzige schwester felicitas v. tietz aus ostpreußen,
eine eifrige convertitinn, deren erzählungen und erlebnisse mich sehr in-
teressirten.
hier stecke ich nun wieder ganz in geschäften. feri Zichys Anwesenheit
hier (er soll in einigen tagen ankommen) wird nicht über 10–12 tage dau-
ern, da er dann den erzherzog nach england begleiten soll,1 und so fällt mir
die ganze leitung der gesellschaft allmälig zu, wohl auch die Abhaltung der
generalversammlung, die am 30. may stattfinden wird, und die theilnahme
an den unterhandlungen wegen der übernahme der triester- und der tyro-
lischen Bahn, welche beyde unserer gesellschaft anheimfallen dürften, bey
der Zusammensetzung unserer verwaltung, welche zur großen mehrheit
1 graf franz (ferenc) Zichy, Präsident der Actien-gesellschaft der lombardisch-venetiani-
schen eisenbahnen, war kurz zuvor zum obersthofmeister von erzherzog ferdinand max
ernannt worden, vgl. eintrag v. 30.3.1857.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien