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Oktober 1857
werdende einquartierungslast gereizt werden, und die niedrigen getreide-
preise die grundsteuern beynahe unerschwinglich machen. ich habe noch
nie, selbst in den Jahren 1846–7 nicht, eine so allgemeine und so laut ausge-
sprochene unzufriedenheit und unwillen in allen klassen, bey allen indivi-
duen, selbst denen, die noch vor kurzem schwiegen oder hofften, bemerkt als
gegenwärtig. Aber damals gab es für klagen und Beschwerden einen legalen
mittelpunkt: die stände, während jetzt alles isolirt und atomisirt ist. damals
war man jugendlich frisch und hoffnungsvoll, während jetzt eine Art von
marasmus und trostlosigkeit über den leuten hängt, welche ebensowenig
die Zustände des Jahres 1848 als den jetzigen Absolutismus wollen und ein
drittes nicht kennen.
mir selbst ist es noch nie so schwer gefallen, meine elasticität zu bewah-
ren und frisch auszuharren als jetzt. Was mich entmuthigt, sind nicht so
sehr die Zustände als gerade jene hoffnungslose, negirende, tief verbitterte
stimmung, die ich um mich her bemerke. der kaiser besitzt weder eigene
einsicht, noch ist er für fremde zugänglich, sondern wird bey seinem eigen-
sinn das Bestehende halten solange es möglich und bis es zu spät ist. mit
einem Worte: auf allen seiten unvernunft. Auswärts sind wir noch immer
isolirt und compromittirt, wenn auch die frage der union der donauländer
wieder in ein für uns günstigeres stadium zu treten scheint, als ich Bruck
vor 3 Wochen sah, klagte er über diese lage, und daß england uns schmäh-
lich verlassen hätte, ich antwortete: nicht england hat uns im stiche gelas-
sen, sondern wir konnten unsere alte rancune nicht vergessen und konnten
uns zu keinem herzlichen loyalen entgegenkommen entschließen. england
fühlte wohl, daß es auf uns nicht zählen dürfe, weil wir immer auf halbem
Wege stehen blieben. hätten wir im July meinen Plan, ein hülfscorps nach
ostindien anzubiethen, angenommen, so wären, davon sey ich fest über-
zeugt, die tage von osborne1 nicht gekommen. übrigens war dieses das
erstemahl seit 2 Jahren, daß Bruck von selbst anfing, von Politik zu spre-
chen. der neue regent von Preußen scheint die erwartungen seiner freunde
rechtfertigen und eine entschiedener deutsche Politik einschlagen zu wollen,
als es bisher der fall war.2 das wird uns wahrscheinlich auf die entgegenge-
setzte seite werfen.
1 das treffen zwischen königin victoria und kaiser napoleon iii. Anfang August 1857, vgl.
eintrag v. 15.8.1857.
2 seit dem sommer 1857 hatte sich die erkrankung von könig friedrich Wilhelm iv. (sprach-
und gedächtnisstörungen, wohl verbunden mit schlaganfällen) stark verschlimmert. Am
23.10.1857 übernahm sein Bruder und thronfolger Wilhelm zunächst als stellvertreter,
seit 7.10.1858 als regent die regierungsgeschäfte.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien