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verdienen.“ 86 „Musikerelend“ wurde zu einem von beruflich Musizierenden häufig
gebrauchten Begriff, ohne dass diesem außerhalb dieser Gruppe große Beachtung
geschenkt worden wäre.87 Die Arbeitslosenquote beruflich Musizierender lag – je
nach Quelle – zwischen 25 Prozent (Volkszählung, Stand 1934)88 und mehr als
75 Prozent (sozialistische Musikergewerkschaft, Stand 1933).89 Das Einkommen
eines/einer MusikerIn außerhalb des Kunstbetriebes war sowohl in den 1920er-
als auch in den 1930er- Jahren in etwa mit dem eines gelernten Maurers oder eines
Hilfsarbeiters in der Bauwirtschaft vergleichbar.90 Neben der allgemein schlechten
wirtschaftlichen Lage nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie, die
auch andere Berufsgruppen schwer traf,91 wurde das „Musikerelend“ auch durch
die fortschreitende Mechanisierung von Musik seit den 1910er- Jahren gefördert.
Erfindung und Verbreitung von Grammophon, Radio und Tonfilm trugen durch
die Konzentration der Musikleistung dazu bei, dass eine kleine Gruppe von Musi-
zierenden voll ausgelastet war und beruflich tätig sein konnte, die große Mehrheit
aber ihre Gelegenheiten, Verdienst zu erlangen, verlor 92
– ein Zusammenhang, der
auch von den Musikergewerkschaften als Kampf gegen die Mechanisierung und
für die „lebendige“ Musik immer wieder thematisiert wurde.
2.3.2 Musizieren kann Arbeit und Arbeitsvermeidung sein
Viele Formen des Musizierens wurden ganz selbstverständlich als Arbeit gesehen.
Sie wurden gegen Lohn ausgeführt, waren arbeitsrechtlich mehr oder weniger abge-
sichert, waren Gegenstand von Kollektivverträgen und wurden vor Arbeitsgerichten
verhandelt. Es gab jedoch auch Musiziertätigkeiten, deren Arbeitscharakter fraglich
86 Österreichisches Staatsarchiv, AdR, Bundeskanzleramt/Ministerium für Inneres, Wanderungs-
amt, 1922, Zl.
71.591, Österreichischer Musikerverband, Schreiben an das Bundesministerium
des Innern, 19. Dezember 1922.
87 „Drangen die Hinweise auf die Nöte der Musiker (von denen gar nicht so wenige ihre Aus-
bildung am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde genossen hatten) überhaupt je
ins Bewußtsein des musikbegeisterten Bürgertums, das sich in den philharmonischen Kon-
zerten traf? Wohl kaum.“ (Heller, Die Zeit, 116).
88 Bundesamt für Statistik, Ergebnisse. Bundesstaat Tabellenheft, 210.
89 Österreichisches Staatsarchiv, AVA, Bundesministerium für Unterricht, Musik in genere, 1933,
Zl. 1.694, Österreichischer Musikerverband, Schreiben an den Präsident der Radioverkehrs
A. G., 17. Jänner 1933, 1.
90 Siehe Kapitel 2.3.6.
91 Vgl. Hanisch, Schatten, 277 ff.
92 Vgl. Wicke, Dienstleistung, 228 ff.; siehe zur wirtschaftlichen Organisationen der Mechani-
sierung von Musik auch Gebesmair, Koalitionen.
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Über die Produktion von Tönen
Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
- Title
- Über die Produktion von Tönen
- Subtitle
- Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
- Author
- Georg Schinko
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20802-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 310
- Keywords
- Music-making, Musician, Work, Vocation, Art, Austria, Correspondence analysis, Life Writing, Interwar period --- Musizieren, Musiker, Arbeit, Beruf, Kunst, Österreich, Korrespondenzanalyse, Lebensgeschichtliche Erzählung, Zwischenkriegszeit
- Category
- Kunst und Kultur