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Prozess der Rückversetzung in die Zeit der Erlebnisse 28 und die Verbindungen
zwischen der gesammelten lebensgeschichtlichen Erfahrung und dem Selbstbild
des/der Erzählenden 29 führten zu einer Re- Positionierung in Bezug auf damals
zentrale Referenzen. „Das ‚Material‘ [der Identität, G. S.] ist aber in den wenigs-
ten Fällen die ‚Primärerfahrung‘, sondern mittelbar angeeignetes, gesellschaftlich
geteiltes Wissen“.30 So ist die oben erwähnte Bezeichnung musikalischer Auftritte
als „Engagement“ oder „Stelle“ ein Hinweis auf Perspektiven auf das Musizieren
zu dem Zeitpunkt, in dem die so beschriebenen Erlebnisse stattfanden. Über die
Verknüpfung von Erinnerung und Erzählung werden so historische Perspektiven
auch in Beschreibungen, die erst Jahrzehnte später produziert worden sind, unter-
suchbar. Der Zeitpunkt des Erzählens stellt eines von vielen Merkmalen der Erzäh-
lung dar, die in die Konstruktion verschiedener Musizierformen eingehen. Dadurch
wird er als Differenzierungsmerkmal von Musizierformen verwendbar. Empirische
Ergebnisse meiner Untersuchung stützen allerdings die Annahme, dass der Erzähl-
zeitpunkt für eine in dieser Art konstruierte Untersuchung wenig relevant ist: Der
Zeitpunkt der Produktion der Erzählung stellt für die unterschiedlichen Arten des
Bezugs auf zentrale Referenzen des Musizierens ein eher unwichtiges Merkmal dar.
So unterscheiden sich Erzählungen, die nahe des Untersuchungszeitraums verfasst
wurden, hinsichtlich dieser zentralen Referenzen nur wenig von Erzählungen, die
Jahrzehnte später entstanden.
In der sozialgeschichtlichen Forschung werden lebensgeschichtliche Erzählun-
gen meist mittels hermeneutischer Interpretation, kombiniert mit der Recherche
des Kontexts des Erlebens und Schreibens, untersucht. Dahinter steht die Überle-
gung, dass der Prozess des Verfassens einer Erzählung, der in dieser Interpretation
durchaus als Konstruktion begriffen werden kann, im Spannungsfeld von Erleb-
nis, Erinnerung und Erzählung derart komplex abläuft, dass eine genaue Kenntnis
der Beziehungen zwischen diesen Aktivitäten sowie der Umstände, unter denen
sie stattfanden, notwendig ist, um die Erzählung zu entziffern. Würde die einzelne
Erzählung nicht intensiv interpretiert und kontextualisiert, liefe man Gefahr, die
(intendierten und nicht intendierten) Bedeutungen der Erzählung falsch oder gar
nicht zu verstehen. In meiner Untersuchung wird jedoch ein anderer Ansatz des
Umgangs mit lebensgeschichtlichen Erzählungen verfolgt. Es soll hier nicht bestritten
werden, dass die Produktion einer Erzählung ein komplexer Prozess ist. Das jeweils
individuelle Verhältnis von Erlebnis, Erinnerung und Erzählung, dessen Beschrei-
bung für das Verständnis historischer Verhältnisse oftmals sinnvoll sein kann, wird
28 Rosenthal, Lebensgeschichte, 197.
29 Vgl. etwa Heinze, Autobiographie, 111.
30 Ders., 112. Erzählen als Praktik 81
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Über die Produktion von Tönen
Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
- Title
- Über die Produktion von Tönen
- Subtitle
- Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
- Author
- Georg Schinko
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20802-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 310
- Keywords
- Music-making, Musician, Work, Vocation, Art, Austria, Correspondence analysis, Life Writing, Interwar period --- Musizieren, Musiker, Arbeit, Beruf, Kunst, Österreich, Korrespondenzanalyse, Lebensgeschichtliche Erzählung, Zwischenkriegszeit
- Category
- Kunst und Kultur