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44 Claudia Märtl
10 Protestantische Bildpropaganda
Anders als vielleicht zu erwarten wäre, bezieht sich die protestantische Bildpropaganda76
keineswegs besonders nachdrücklich auf das päpstliche Auftreten mit der sedia gestatoria,
obwohl Martin Luther 1520 in seinem Aufruf „An den christlichen Adel deutscher Nation“
neben vielen anderen Phänomenen des Zeremoniells auch diesen Aspekt geißelte:
Der selben grosz ergerlichen hoffart ist auch das ein heszlich stuck / das der Bapst yhm nit
lessit benugenn / das er reytten oder farenn muge / szondern / ob er wol starck und gesund
ist / sich von menschen / als ein abtgot mit vunerhorter pracht / tragen lessit. Lieber wie
reymet sich doch solch Lucifersche hoffart / mit Christo / der zufussen gangen ist / vnd alle
seine Aposteln? … Alszo geht es auch / wen er das sacrament in der procession vmbtregt
/ yhn musz man tragen / aber das sacrament stet fur yhm wie ein kandel weynsz auf dem
tisch […].77
Trotz dieser Steilvorlage nahmen protestantische Künstler viel lieber den ein aufgeputztes
Pferd reitenden Papst aufs Korn und stellten ihn Christus auf der Eselin gegenüber.78 Es
gibt nur wenige bedeutende Ausnahmen; die erste findet sich unter den Holzschnitten Lu-
cas Cranachs zu der 1521 auf Lateinisch veröffentlichten „Antithesis figurata Vitae Christi
et Antichristi“ Philipp Melanchthons und Johann Schwertfegers, die im selben Jahr als
„Passional Christi und Antichristi“ auch auf Deutsch erschien. Eines der dreizehn Bild-
paare zeigt links den unter dem Kreuz zusammenbrechenden Christus und rechts den
Papst auf einer sedia minor, kommentiert durch die Bildunterschrift: „Sic etiam fert crucem
papa, ut baptisati Christiani cogantur eum humeris suis portare“ (Abb. 10).79 Der Papst trägt
die Tiara, vollführt mit der rechten Hand einen Segensgestus und hält in der linken Hand
76 Vgl. zum Folgenden Staubach 2004 (wie Anm. 42), hier S. 125–134; Carsten-Peter Warncke,
Bildpropaganda der Reformationszeit. In: Barbara Stollberg-Rilinger/Thomas Weissbrich
(Hg.), Die Bildlichkeit symbolischer Akte (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche
Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496, 28, Münster 2010), S. 185–197;
Marco Cavarzere, Rituale und Zeremonien zu Beginn der Reformation – zwischen Kritik und
Innovation. In: Schmidt/Wolf 2013 (wie Anm. 42), S. 309–335, hier bes. S. 324–334.
77 Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Bes-
serung, 1520, bearbeitet von Karlheinz Blaschke (Martin Luther, Studienausgabe, hg. von
Hans-Ulrich Delius, Bd. 2, Leipzig 1982), S. 130 f.
78 Traeger 2008 (Nachdruck, wie Anm. 30), S. 143–148.
79 Benutzt wurde ein koloriertes Exemplar der Antithesis figurata Vitae Christi et Antichristi, Wit-
tenberg 1521 (Signatur: 31.W.71), das von der Österreichischen Nationalbibliothek digitalisiert und
online gestellt wurde.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Title
- Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
- Subtitle
- Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Author
- Mario Döberl
- Editor
- Alejandro López Álvarez
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20966-9
- Size
- 17.5 x 24.7 cm
- Pages
- 432
- Categories
- Geschichte Vor 1918