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Endre
Hárs98
Der von Fábri umrissene ›Bevölkerungsreichtum‹ Jókai-Ungarns legt nun
nahe, dass man nur suchen muss, um für die Perspektive des vorliegenden Bandes
fündig zu werden. Und dennoch beobachtet man in der genannten Monografie die
vielleicht ungewollte, vielleicht historisch begründete Tendenz, die sozialen Rollen
und Skalierungen von den Männerfiguren her zu definieren und die Frauenfigu-
ren als »die andere Hälfte Jókai-Ungarns«, als die »Frauenwelt«3 immer nur im An-
schluss und unter Hintansetzung geschlechtlicher Differenzen mit anzuführen.
Durchaus kann man diese Tendenz aus dem Œuvre selbst ableiten und es als die li-
terarische Bestandsaufnahme der historischen Welt von Männern inklusive Frauen
rekapitulieren, d.h. als eine Welt von fest etablierten und hierarchisch geordneten
Geschlechterrollen deuten, die sich nun mal in einer typisch zu nennenden litera-
rischen Rollenverteilung niederschlägt. Belässt man es nicht dabei und setzt man,
wie im Folgenden, auf die Komplexität Jókai-Ungarns, so ergeben sich auch andere
Perspektiven auf das Werk. Das Unterlaufen der Differenz zwischen Mann und
Frau und ihrer sozialen Rollen, die Suspendierung derartiger Zuschreibungen, die
Hervorkehrung von Neu- beziehungsweise Nichtbesetzungen stellen jedenfalls
eine Herausforderung an die Lektüre dar und sind zugleich eine Chance für den
Autor selbst. Denn das, was hier gesucht wird, soll nicht nur »unter dem Strich«
(d.h. im manifesten Text des Feuilletonromans in der Sparte ›Belletristik‹), sondern
möglicherweise auch ›zwischen den Zeilen‹ gefunden werden. Und macht man
solche Un-Stellen aus, so kommt das einem Autor, der – von der akademischen Kri-
tik seiner Zeit bis hin zu den modernen Nachfolgerinnen und Nachfolgern – oft als
zu populär, als oberflächlich und klischeehaft gescholten wurde, definitiv zugute.
1. rollenwechsel
Jókai war sich – als Autor und Erzähler – der Geschlechterrollen durchaus bewusst,
so dass er sie in seinen Plots und Figuren nicht nur vielfach benutzte, sondern je
nachdem auch aufschlussreich unter- und übertrieb. Diese Hypothese soll zum
Auftakt an einem Thema beleuchtet werden, das sich auch mit ›Jókais starke Frau-
en‹ überschreiben ließe und vorbildhafte und dezidiert provokative Beispiele glei-
chermaßen aufweist. Jókai behandelte den Freiheitskampf von 1848/49 zeitlebens
als einen Bezugspunkt, der ihm nicht nur den Erzählstoff lieferte, sondern auch
zum Privatmythos wurde. In diesen Kontext gehören die unter dem Pseudonym
Sajó veröffentlichten Schlachtenbilder und Szenen aus Ungarns Revolution 1848 und
1849 (1850; Forradalmi és csataképek 1848– és 1849-ből, 1850), eine Sammlung von
erzählerischen Schicksalsberichten über die beiden, nationalhistorisch insgesamt
als tragisch-heroisch und als solches als erhebend beschriebenen Revolutionsjah-
re. Unter ihnen befindet sich die Erzählung Das Széklyer Weib (Székely asszony),
deren Szenario in im Székler Land befindlichen Sepsiszentgyörgy (heute Sfîntul
Gheorghe)4 angesiedelt ist und eine Stadt zeigt, in der nach den blutigen Schlach-
3 | Fábri: Jókai-Magyarország, S. 90; dieselbe Asymmetrie beobachtet und korrigiert Mar-
gócsy, István: Nőiség, női szerepek, romantika [Weiblichkeit, Frauenrollen, Romantik]. In:
2000 3 (2015), S. 52-63. Übersetzungen, soweit nicht anders vermerkt, vom Verfasser.
4 | In manchen Fassungen Kézdivásárhely (heute Tîrgu-Secuiesc), vgl. Jókai, Mór: Összes
Művei [Sämtliche Werke von Mór Jókai] (im Folgenden zitiert als JMÖM). Elbeszélések [Er-
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur