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© 2021 V&R unipress, Brill Deutschland GmbH
ISBN Print: 9783847113232 – ISBN E-Lib: 9783737013239
Dieses Phänomen zeigt sich in vielenDiskussionen amBeispiel der Genre-
Einordnung. Die Zuordnung zu einemGenre –daswird in den Lesegruppen-
diskussionen sehrdeutlich–hat entscheidendenEinfluss aufdieErwartungan
einBuchunddieBewertungderLektüre.
FürdiehitzigstenGesprächesorgtenjeneGenres,diedieRelationeinesTextes
zur Realität spezifisch definieren, wieHistorischer RomanundAutobiografie;
dieseTextsorten, vondenenmanweiß, dass sie sich aufdieWirklichkeit bezie-
hen, diskutieren Lesegruppenmitgliederweniger über ästhetischeAspekte und
stärker über den Erkenntnisgewinn eine Epoche, eine Kultur oder ein indivi-
duellesSchicksalbetreffend, siebeförderneinebestimmteLektürehaltung.Eine
Teilnehmerin formuliertdies so:„EinGenuss istdasnicht. Insofernmöchte ich
wenigstensetwas lernen.“26Besonders für jeneGruppenundMitglieder,dieaus
der Literatur ‚fürs Leben lernen‘, aus einer Erzählung für die eigene Lebenser-
fahrung profitieren möchten, ist Authentizität, das durch die Erfahrung der
AutorInnenbeglaubigteErzählte vonWert.
Paratextuelle Informationen gehen der Lektüre nicht immer voraus, sie
könnenaucherstnachträglich imGesprächeingebrachtwerden,wenndieLek-
türe abgeschlossen ist; dieVeränderungdesWissensstandes imAustauschmit
anderen (umwelchesGenre handelt es sich, was darf diesesGenre) kann zwar
eineInterpretationanreichernunddasVerständnis füreinWerkvertiefen27,der
unmittelbare Lektüreeindruck verändert sich jedoch nur bedingt. Der Ärger
einer unbefriedigten Leserin, die während des Lesens nicht wusste, welche ge-
schilderten Inhalte auf Tatsachenberuhenundwelche erfunden sind, verblasst
nicht durchdieZuordnungundErklärungderKonventionendesGenres ‚His-
torischer Roman‘ durch eine andere Teilnehmerin. „Sehen als“ ist ein unmit-
telbarerAkt,nichtetwas,dasderWahrnehmungretrospektivübergestülptwird.
Anzunehmen ist eher, dassdieserZugewinnanWissenunddieseVerfeinerung
der Wahrnehmung Auswirkungen auf künftige Lektüren und Gespräche hat
(siehePunkt4).
Auchwenn Paratexte für gewöhnlich instrumentellen Charakter aufweisen,
d.h.vonLesekreisengenütztwerden,umeinenbesserenoderanderenZugangzu
einemWerk zu finden, kann diese Relation entkoppelt werden. Gelingt eine
sinnstiftende Interpretation des Primärtextes mit Hilfe zusätzlicher Informa-
tionennicht,hatmanimmerhinWissenübererworben,z.B.Kenntnisseüberdie
Art undWeise einer Klassifikation, die Spezifika eines Genres, die Strukturen
eines Rezeptionsprozesses. Diese Erkenntnisse befriedigen jene Gruppen und
Mitglieder stärker, derenUnternehmenaufWissenserwerb imZusammenhang
26 Bw4 inG3/D3,Z. 699.
27 Einige Studien zu Lesegruppen betonen die gemeinsame Sinnkonstruktion während der
Diskussionen, etwaCharltonet al. 2004,Novak2007.
ClaudiaDürr72
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Über Bücher reden
Literaturrezeption in Lesegemeinschaften
- Title
- Über Bücher reden
- Subtitle
- Literaturrezeption in Lesegemeinschaften
- Author
- Doris Moser
- Editor
- Claudia Dürr
- Publisher
- V&R unipress
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7370-1323-9
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 262
- Category
- Lehrbücher