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43Kriegsinvalide
– Kriegsbeschädigte
– Kriegsopfer : Benennungen und Definitionen
Bestanden vor Ausbruch des Krieges noch getrennte Regelungen,106 so wurden sie im
Verlauf des Krieges zunehmend „zusammengedacht“ und zentrale während des Krie-
ges erlassene Bestimmungen sahen schon Leistungen für beide Gruppen vor.107 Das
Invalidenentschädigungsgesetz von 1919 brachte diese Entwicklung gewissermaßen
zum Abschluss und machte das neue Konzept augenscheinlich : Die staatliche Versor-
gungspflicht gegenüber den wehrpflichtigen Männern übertrug sich im Todesfall auf
die von diesen abhängigen Personen. Der Wehrpflichtige
– nicht allein als Staatsbürger,
sondern auch als Familienerhalter gedacht – konnte seine Ansprüche gegenüber dem
Staat gewissermaßen „vererben“. Und auch wenn der Anspruch der Angehörigen stets
ein abgeleiteter war, wurde damit immer stärker die Familie als anspruchsberechtigtes
„Subjekt“ gegenüber dem Staat konstruiert. Kehrte der Soldat kriegsbeschädigt heim,
so wurde er mit staatlicher Unterstützung in die Lage versetzt, trotz seiner körperlichen
Behinderung für seine Familie zu sorgen. Kehrte er nicht mehr heim oder starb er spä-
ter an den Folgen seiner Verletzung oder Erkrankung, so trat der Staat an seine Stelle
und alimentierte die Hinterbliebenen. Eine Differenz blieb jedoch : Der Kriegsbeschä-
digte bezog seinen Status aus sich selbst heraus, die Hinterbliebenen dagegen konnten
nur auf seinem Status aufbauen. Auf diese Weise entstand eine zwar zweifellos eng
zusammenhängende, aber auch klar hierarchisierte Gruppe von Leistungsempfängern
und -empfängerinnen.
Für diese aus zwei klar voneinander unterschiedenen Teilen bestehende Gruppe
tauchte nun zu Beginn der 1920er-Jahre erstmals
– anfangs noch sehr vereinzelt
– der
Begriff Kriegsopfer als Sammelbezeichnung auf.108 Schon aus rein praktischen Grün-
den war es wohl „ereignisnah“, also während des Krieges oder auch kurz danach, we-
der tunlich noch auch möglich gewesen, diese inhomogene Gruppe mit einem Begriff
zu erfassen. Unter dem Eindruck des Krieges und der noch real bestehenden Gefahr,
als Versehrter vom Feld zurückzukehren, war die Benutzung eigener und klar be-
zeichnender Begriffe für diesen Status der Zerstörung nur logisch gewesen. So wähl-
ten auch die unmittelbar nach dem Krieg entstandenen Interessenvertretungen der
Kriegsbeschädigten und -hinterbliebenen noch verschiedene Bezeichnungen für die
beiden Hauptgruppen ihrer Klientel. Spätere Gründungen nannten sich schon ganz
selbstverständlich Kriegsopferverbände.109 Zudem dürfte der Begriff des Opfers –
106 Für Kriegsbeschädigte das MVG von 1875 (RGBl 1875/158), für Hinterbliebene das Witwen- und
Waisenversorgungsgesetz (RGBl 1887/41).
107 Staatliche Unterstützungen (RGBl 1915/161) und Zuwendungen (RGBl 1918/119) ; siehe dazu detail-
liert Kapitel 2.
108 Z. B. AT-OeStA/AdR BMfsV Kb, Kt. 1574, Sa 153, Vorakt 27655/1921 ; hier ist die Rede von einer
Lebensmittelaktion für bedürftige „Kriegsopfer“.
109 Der wichtigste österreichische Verband war der Zentralverband der deutsch-österreichischen Kriegsbe-
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die Wundes des Staates
- Subtitle
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Authors
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 586
- Categories
- Geschichte Nach 1918