Page - 58 - in Die Wundes des Staates - Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Image of the Page - 58 -
Text of the Page - 58 -
58 Die Gesetzgebung der Monarchie
Gesetz hatte nicht den Staatsbürger im Visier, der pflichtgemäß seinen Militärdienst
ableistet und als Gegenleistung vom Staat die Zusicherung erhält, im Schadensfall
finanziell entschädigt zu werden. Die staatliche Absicherung wurde im Falle einer
Dienstzeit von weniger als zehn Jahren nur dann garantiert, wenn der Betroffene auf-
grund der Schäden, die er erlitten hatte, vollständig erwerbsunfähig war. Wie sich
im Ersten Weltkrieg zeigen sollte, war es aber gerade diese Regelung des Militärver-
sorgungsgesetzes, die für die allergrößte Gruppe von Kriegsbeschädigten schlagend
wurde. Die allermeisten der im Ersten Weltkrieg dienenden Soldaten waren ja infolge
der Wehrpflicht eingezogene männliche Staatsbürger, die
– selbst wenn man die Jahre
des Wehrdienstes mit den Kriegsjahren zusammenzählt – eine zehnjährige Dienstzeit
nicht erreichen konnten.
Im Militärversorgungsgesetz steckte – salopp gesagt – das drinnen, was außen drauf-
stand, nämlich die Regelung der Pensionsansprüche der Berufsgruppe der Militärper-
sonen. Es soll hier nicht gemutmaßt werden, ob der Gesetzgeber im Jahr 1875 eigent-
lich hätte voraussehen müssen, unter welchen Bedingungen – von waffentechnischen
Neuerungen einmal abgesehen – künftige Kriege stattfinden würden, wenn die Größe
des Heeres nur noch von der Zahl der männlichen Staatsbürger im wehrfähigen Alter
abhängt. Der Anspruch des Gesetzgebers im Jahr 1875 war es jedenfalls ganz offenbar
nicht, ein Gesetz zu schaffen, das die sozialen Folgen eines modernen Krieges abzufe-
dern in der Lage gewesen wäre. Diese Beobachtung deckt sich mit der Einschätzung
Michael Geyers, der in einem Vergleich der Systeme zur Versorgung von Kriegsopfern
in Deutschland, Frankreich und Großbritannien vor dem Ersten Weltkrieg zum Schluss
kommt, dass alle einschlägigen Gesetze an der Wirklichkeit dieses Krieges vorbeikonst-
ruiert gewesen und von einer begrenzten militärischen Auseinandersetzung sowie einem
von der Gesellschaft abgesonderten Militärstand ausgegangen seien.23 Geyers Befund
gilt ohne Einschränkung auch für die österreichisch-ungarische Monarchie.
Im Wesentlichen bildeten das Militärversorgungsgesetz von 1875 sowie das Gesetz
über die Militär-Versorgung von Witwen und Waisen von 1887 jenen gesetzlichen
Rahmen, vor dessen Hintergrund die Kriegsbeschädigtenfürsorge im Ersten Weltkrieg
abgewickelt wurde. Anfang 1918 beschrieb ein Beamter des eben neu gegründeten
Ministeriums für soziale Fürsorge diese Tatsache wie folgt :
„Da muss zunächst festgestellt werden, dass uns der Krieg, was die Invalidenfürsorge anlangt,
fast vollkommen unvorbereitet traf. Die bestehenden Vorschriften erschöpften sich eigent-
23 Michael Geyer, Ein Vorbote des Wohlfahrtsstaates. Die Kriegsopferversorgung in Frankreich, Deutsch-
land und Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg, in : Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für
Historische Sozialwissenschaft, 9 (1983) 2, S. 230–277, hier S. 234.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die Wundes des Staates
- Subtitle
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Authors
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 586
- Categories
- Geschichte Nach 1918