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normative Rahmen der Kriegsbeschädigtenversorgung während des Krieges
gungsgesetz ausgearbeitet worden, zu einem Abschluss der Verhandlungen sei es aber
wegen des Kriegsausbruchs nicht mehr gekommen. In einer Passage der Anfragebe-
antwortung umreißt der Minister das Problem der Militärversorgung – die sich im
Laufe des Krieges mehr und mehr zu einer Invalidenversorgung verengt hatte – sehr
realistisch : Einerseits sei die Lösung des Problems der Versorgung der Kriegsbeschä-
digten zweifellos eine der dringendsten Aufgaben der Staatsverwaltung.
„Andererseits aber ist diese Frage eine unserer allerschwierigsten Aufgaben, wenn eine Lösung
gefunden werden soll, die sowohl befriedigend ist und den Interessenten wirklich das bringt,
worauf sie zweifellos einen Anspruch haben, als auch die finanzielle Tragfähigkeit des Staates
berücksichtigt und nicht bloß in utopistischer Weise für Versorgungsgenüsse vorsieht, welche
in Wirklichkeit von den Staatsfinanzen auf die Dauer nicht getragen werden können.“36
Damit ist wohl das zentrale Dilemma, in dem der Staat steckte, präzise umschrieben :
Die bereits mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht unausgesprochen einge-
gangene Selbstverpflichtung des Staates, die lange Zeit eine bloß theoretische gewesen
war, wurde im Ersten Weltkrieg infolge der tatsächlichen Inanspruchnahme der Wehr-
pflichtigen erstmals schlagend, und im gleichen Moment war offensichtlich, dass das
Gemeinwesen auf die Bewältigung dieser Aufgabe in keiner Weise vorbereitet war. We-
der finanziell noch organisatorisch waren jene Ressourcen vorhanden, welche angesichts
der Opferzahlen des Krieges notwendig gewesen wären, um das Problem zu bewältigen.
Das Staatsbudget, das selbst in Friedenszeiten nicht in der Lage gewesen war, angemes-
sene Entschädigung zu leisten, war dies noch viel weniger während des Krieges.
2.4.1 Provisorien und ihr Ausbau
Da es aber auch nach Beginn des Krieges nicht gelang, der gesetzlichen Invalidenver-
sorgung eine fundamental neue Grundlage zu geben,37 mussten bestehende Regelun-
gen behelfsmäßig adaptiert werden, um überhaupt eine ansatzweise Versorgung der
Kriegsbeschädigten und ihrer Angehörigen zu gewährleisten. Bis März 1917 wurde zu
diesem Zweck ein schwer durchschaubares und offenbar auch kaum administrierba-
36 Ebd. Tatsächlich dürfte es schon seit etwa 1907 Versuche gegeben haben, das MVG von 1875 zu refor-
mieren, allerdings scheiterten diese Ansätze am Nicht-Zustandekommen einer Einigung zwischen der
österreichischen und der ungarischen Regierung. Da die Armee aber im Unterschied zu Landwehr und
Honvéd eine gesamtstaatliche Einrichtung darstellte, war diese Einigung Voraussetzung für ein neues
Militärversorgungsgesetz.
37 Zu den vorbereitenden Arbeiten für ein neues Militärversorgungsgesetz während des Krieges vgl. weiter
unten.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die Wundes des Staates
- Subtitle
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Authors
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 586
- Categories
- Geschichte Nach 1918