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74 Die Gesetzgebung der Monarchie
die keinen Anspruch auf einen Unterhaltsbeitrag hatten. Es ist höchst erstaunlich, dass
jene Experten, die beauftragt waren, das alte Unterhaltsbeitragssystem zu reformie-
ren, über die entscheidendste Erweiterung des Bezieherkreises während des Krieges
nicht Bescheid wussten.74 Allerdings muss man den Ausschussmitglieder zugute halten,
dass die Verordnung von 1915 tatsächlich äußerst unklar formuliert gewesen war, da,
wie oben bereits gesagt, der Begriff der Invalidität an der entscheidenden Stelle in der
Bestimmung gar nicht verwendet, sondern stattdessen von der „Rückberufung in das
nichtaktive Verhältnis“ gesprochen wurde. Der ehemalige Unterrichtsminister Gustav
Marchet75 hatte schon 1915 moniert, dass diese Veränderungen „textlich für die betei-
ligten Kreise wenig verständlich“ seien.76 Dieser Mangel wurde mit dem neuen Gesetz
behoben, indem dieses explizit eine Anspruchsberechtigung der Angehörigen auf Fort-
zahlung des Unterhaltsbeitrages normierte, wenn „der Herangezogene mit einer nach-
weisbar infolge der Dienstleistung eingetretenen mindestens 20prozentigen Verminde-
rung der Erwerbsfähigkeit […] ausscheidet“.77 Damit wurde die 20-Prozent-Grenze
aus dem § 2 der Verordnung von 1915 (wo sie Voraussetzung für die Gewährung staat-
licher Unterstützungen war) nun auch in die Textierung des Unterhaltsbeitragsgesetzes
übernommen (wo sie den Anspruch auf Unterhaltsbeiträge begründete).
Zukunftsweisend ist eine weitere Bestimmung des neuen Unterhaltsbeitragsgeset-
zes, die festlegte, dass sich die Kommissionen, die für die Berechnung und Vergabe der
Unterhaltsbeiträge zuständig waren, neu konstituieren und nun auch zwei „Vertreter
aus der Bevölkerung“ in ihr Gremium berufen mussten.78 Mit der Normierung die-
74 Ein Schlaglicht auf die Komplexität des Systems wirft auch eine weitere Episode. Das Ministerium
für soziale Fürsorge hatte mit Erlass v. 12.4.1918 alle Landeskommissionen zur Fürsorge für heim-
kehrende Krieger aufgefordert, Beratungsstellen für Kriegsbeschädigte zu installieren. Die Salzburger
Landeskommission antwortet dem Ministerium auf diesen Erlass hin am 9.7.1918 : „[…] erlaubt sich
die Landeskommission zu berichten, dass die Schaffung einer eigenen Auskunftsstelle militärischer Bei-
räte hier nicht möglich ist, weil sich niemand Geeigneter finden lässt, der in den schwierigen Fragen der
militärischen Versorgungsgebühren Bescheid weiss.“ Die Lösung des Problems fanden die Salzburger
Beamten darin, einschlägige Anfragen daher an das Militärkommando Innsbruck weiterzuleiten ; AT-
OeStA/AdR BMfsV Kb, Kt. 1362, 17505/1918.
75 Gustav Marchet (*1846, †1916), Jurist, 1901–1907 Reichsratsabgeordneter, 1906–1908 österreichischer
Unterrichtsminister im Kabinett Beck, ab 1908 Mitglied des Herrenhauses, war entscheidend beteiligt
am Zustandekommen des 1906 erlassenen Pensionsversicherungsgesetzes für Privatbeamten (RGBl
1907/1) ; Österreichisches biographisches Lexikon, Bd. 6, Wien 1974, S. 70.
76 Marchet, Die Versorgung, S. 11.
77 RGBl 1917/313, § 4 Abs 2.
78 Ebd., § 7 Abs 2. Dort heißt es : „Bei Bestellung der Letzteren [=Vertreter der Bevölkerung, AdA] sind
die im betreffenden Gebiete am stärksten vertretenen Berufszweige in der Weise zu berücksichtigen, daß
aus jedem dieser Berufszweige je zwei Vertreter berufen werden. Zu den Entscheidungen sind […] die
dem Berufszweige des Herangezogenen angehörenden Vertreter zu bestimmen.“
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die Wundes des Staates
- Subtitle
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Authors
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 586
- Categories
- Geschichte Nach 1918