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90 Die Gesetzgebung der Monarchie
In verfassungsrechtlicher Hinsicht war es das komplexe Verhältnis zwischen dem ös-
terreichischen und dem ungarischen Teil der Monarchie, welches das Versorgungssys-
tem so ineffizient und schwerfällig machte. Das Militär war überwiegend eine gemein-
same Angelegenheit der beiden Teilstaaten. Jede Belastung des Militärbudgets durch
neue Ausgaben – wie sie die Finanzierung bzw. der Ausbau der Kriegsbeschädigtenfür-
sorge in weiten Bereichen ganz eindeutig darstellte – war daher gemeinsame Sache von
Österreich und Ungarn und konnte nur in Absprache geschehen. Die Notwendigkeit
langwieriger Verhandlungen – ein Umstand, der bereits die Textierung des „Initialge-
setzes“, des Militärversorgungsgesetzes von 1875, bestimmt hatte – wurde während des
Krieges zum entscheidenden Hindernis für eine raschere Adaption bzw. Neuausrichtung
des Vorkriegsversorgungssystems. Bestes Beispiel dafür bildet die Genese jenes Geset-
zes, das das eben erwähnte Militärversorgungsgesetz von 1875 ersetzen hätte sollen.
Die Verhandlungen zwischen Österreich und Ungarn begannen bereits vor Ausbruch
des Krieges und fanden ihren Abschluss erst Mitte 1918. Trotzdem konnte mangels
weitergehender Übereinstimmung nur ein Minimalkonsens erzielt werden, der es wie-
derum erforderlich machte, in jedem Teilstaat auch ein sogenanntes Zusatzrentengesetz
zu beschließen, um ein – wenigstens aus damaliger Regierungssicht – „vollständiges“
Versorgungssystem zu schaffen. Dass dieses Zusatzrentengesetz in Österreich gar nicht
mehr in Kraft treten sollte, ist in diesem Zusammenhang dann schon fast nebensächlich.
Eine nicht unerhebliche Rolle dafür, dass die Maßnahmen bis dahin eher dürftig
geblieben waren, dürfte schließlich auch die Tatsache gespielt haben, dass die Normen
zur Regelung der Kriegsbeschädigtenfürsorge bis März 1917 ohne Beteiligung des
Parlaments zustande kamen. Bis zur Einberufung des Reichsrates konnte die Regie-
rung daher Regelungen ohne parlamentarische Kontrolle erlassen, was es zweifellos
erlaubte, restriktivere Bestimmungen durchzusetzen.
Betrachtet man das System zur Versorgung der Kriegsbeschädigten im Detail, so
sind es jenseits der Tatsache, dass die wechselseitige Verpflichtung von Staat und
männlichem Staatsbürger im Verlauf des Krieges endgültig und allseits anerkannt
wurde, zwei Aspekte, die besonders stark in Auge stechen :
1. Im Verlauf des Krieges musste die Staatsverwaltung erkennen, dass der Kriegsbe-
schädigte nicht nur für das Militär verloren war, sondern auch für die Volkswirt-
schaft, wenn nicht unterstützende Maßnahmen getroffen wurden, die eine berufli-
che Reintegration ermöglichten. Damit eng verbunden war die Entscheidung des
Gesetzgebers, Beschädigungen nicht absolut zu bewerten, sondern immer im Hin-
blick auf den früheren Zivilberuf des Kriegsbeschädigten.
2. Durch die Wehrpflicht und die daraus resultierende staatliche Versorgung der Kriegs -
beschädigten und ihrer Angehörigen bzw. Hinterbliebenen verfestigte sich in sozial-
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die Wundes des Staates
- Subtitle
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Authors
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 586
- Categories
- Geschichte Nach 1918