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95Arbeitspflicht
Selbst wenn ein Staat zur Ansicht gelangt wäre, das Opfer, das ein Kriegsbeschädig-
ter durch den Verlust seiner Gesundheit oder körperlichen Integrität gebracht hatte,
sei ein so großes, dass man im Abtausch dafür bereit sei, ihn unbegrenzt zu alimen-
tieren, wäre ein solcher Staat angesichts der Zahl der zu Versorgenden im Laufe des
Ersten Weltkrieges finanziell in die Knie gegangen, führten doch schon die tatsäch-
lich geleisteten – und, wie oben gezeigt, keineswegs existenzsichernden – Zahlungen
an Kriegsbeschädigte und deren Angehörige den Staatshaushalt in kürzester Zeit an
seine Grenzen. Es war offensichtlich, dass die Mittel nicht ausreichen würden, eine
so große Gruppe von Arbeitsunfähigen zur Gänze und dauerhaft auf Staatskosten zu
versorgen. Unterstützte der Staat die Kriegsbeschädigten aber darin, sich wieder selbst
zu erhalten, so kam er seiner Verpflichtung gegenüber diesen Menschen ebenfalls, und
sogar auf kostengünstigere Weise, nach. Ein weiteres und wohl auch nicht einfach
als Vorwand abzuqualifizierendes Argument gegen eine finanzielle Vollversorgung war
die häufig geäußerte Sorge, dass auf diese Weise ein „Fürsorgeproletariat“8 oder, wie es
an anderer Stelle geradezu poetisch hieß, eine Heer „von mit sich und der Welt zerfal-
lener Almosenempfänger“9 geschaffen würde.
Niemand wünschte sich aber jene Zeit zurück, als Kriegsinvalide mangels Alterna-
tiven auf die private Wohltätigkeit angewiesen waren. Zu eindeutig war es mittlerweile
Sache des Staates geworden, sich um die Opfer des Krieges zu kümmern, Zeitgenos-
sen benutzten in diesem Zusammenhang immer wieder das Bild des Leierkastens als
negatives Symbol für die herkömmliche und hoffentlich bald ganz der Vergangenheit
angehörende Invalidenversorgung ; zu einem „modernen Empfinden“ würde eine sol-
che demütigende Unterstützungsform einfach nicht mehr passen :
„Wir alle erinnern uns der Invaliden, die mit der Kriegsmedaille und häufig auch noch mit
anderen Auszeichnungen geschmückt, das Recht sich erworben haben, mit dem Leierkasten
oder mit einem anderen Instrument von Haus zu Haus zu wandern und durch das Spiel sich
einen kärglichen Verdienst zu erwerben. Was waren diese Leute eigentlich ? Sagen wir es un-
gescheut ! Bettler waren sie, angewiesen auf die Gnade oder Ungnade fremder [sic], abhängig
von der Mildtätigkeit ihrer Mitmenschen, oft beiseite geschoben, verhöhnt, verachtet, als
Faulpelze und Strolche erniedrigt.
8 Marchet, Die Versorgung, 1915, S. 28. Diese Befürchtung hegten die Experten in Verwaltung und Po-
litik auch noch in der Ersten Republik, wie sich immer wieder in parlamentarischen Debatten und
Äußerungen der mit dem Thema beschäftigten Beamten zeigt.
9 Sten. Prot. AH RR, XXII. Session, 1917, Beilage Nr. 887, Bericht des Gesundheitsausschusses über die
Kaiserliche Verordnung v. 29.8.1915, RGBl Nr. 260 […].
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die Wundes des Staates
- Subtitle
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Authors
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 586
- Categories
- Geschichte Nach 1918