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96 Die soziale Kriegsbeschädigtenfürsorge im Krieg
Unserem modernen Empfinden kann eine derartige Versorgung der Invaliden nicht
entsprechen. Wir müßten es als ein gewaltiges Unrecht empfinden, daß Leute, die
einst als tapfere Helden gekämpft und gelitten, nunmehr von bitteren Gefühlen be-
seelt, der Allgemeinheit zur Last fallen sollten.“10
Da also die vollständige Alimentierung der Kriegsbeschädigten auf Staatskosten
weder möglich noch erwünscht und die private undenkbar geworden war, sah sich
der Staat gezwungen, in die berufliche Reintegration der Kriegsbeschädigten zu in-
vestieren. Er tat dies einerseits, indem er die Aufgaben der Kriegsbeschädigtenfür-
sorge um ein ganzes Set von hier im Folgenden näher zu beschreibenden Maßnahmen
erweiterte, die alle den Zweck hatten, die Erwerbsfähigkeit der Kriegsbeschädigten
nach Möglichkeit wieder herzustellen. Und er tat es andererseits, indem er daneben
ganz klar zum Ausdruck brachte, dass jeder Kriegsbeschädigte seinerseits am Projekt
der eigenen Reintegration tatkräftig mitwirken und den ihm verbleibenden Rest an
Arbeitskraft einsetzen musste. So unterwarf er ihn also gewissermaßen der eingangs
erwähnten „Arbeitspflicht“. Und dies war der zweite Teil des „Pflichtenheftes“ – der
Zusammenhang von Fürsorge- und Arbeitspflicht. Er wurde erst im Zuge des Ersten
Weltkrieges, dann aber umso deutlicher, evident und war – was angesichts der äußerst
unvollständigen Erfüllung der staatlichen Fürsorgepflicht aber auch nicht weiter ver-
wundert – vor diesem Krieg überhaupt noch nicht formuliert worden.
Der Charakter der Verpflichtung war freilich im Hinblick auf die Arbeitspflicht
ein anderer als im Hinblick auf die Wehrpflicht. Zwar sahen die einschlägigen Ver-
ordnungen – wie später noch ausgeführt wird – gewisse, wenngleich relativ zahnlose
Zwangsmaßnahmen für jene Männer vor, die sich den Rehabilitationsprogrammen
entzogen, in erster Linie wurde die Arbeitspflicht aber moralisch untermauert. Un-
zählige Autoren betonten, dass die Rückführung der Kriegsbeschädigten zur Erwerbs-
fähigkeit „im Interesse des Einzelindividuums nicht minder, wie im Interesse der
Allgemeinheit“11 notwendig war. Zum ökonomischen Argument trat also noch ein
10 Sten. Prot. AH RR, XXII. Session, 56. Sitzung v. 30.1.1918, S. 2941 (Jankovič). Siehe zum Mythos des
Leierkastens Sabine Kienitz, Der Krieg der Invaliden. Helden-Bilder und Männlichkeitskonstruktionen
nach dem Ersten Weltkrieg, in : Militärgeschichtliche Zeitschrift 60 (2001) 2 : Nach-Kriegs-Helden,
S. 367–402, hier S. 389ff.
11 So hieß es schon in einem Erlass des MdI v. 8.6.1915 : „Erster und oberster Grundsatz der Invaliden-
fürsorge muß es sein, Personen, die durch Verwundung, Erkrankung oder auf sonstige Art im Kriege
ihre Erwerbsfähigkeit ganz oder zum Teil eingebüßt haben, im Interesse des Einzelindividuums nicht
minder, wie im Interesse der Allgemeinheit wieder zu möglichst vollwertigen, aufrechten Mitgliedern
der staatlichen Gemeinschaft zu machen und zu trachten, daß dieses ideale Ziel
– Erwerbsfähigkeit und
Erwerbsmöglichkeit der Kriegsbeschädigten – durch vollstes Zusammenwirken aller in Betracht kom-
menden Faktoren auch wirklich erreicht wird.“ K.k. Ministerium des Innern, Mitteilungen, 1915, S. 6 ;
siehe auch die Argumentation bei Siegfried Kraus, Die Kriegsinvaliden und der Staat, München 1915.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die Wundes des Staates
- Subtitle
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Authors
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 586
- Categories
- Geschichte Nach 1918