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119Exkurs
: Schulung in der Invalidenstadt
freundlichen Anblick“.31 Über 1.000, zeitweise 2.00032 Kriegsbeschädigte lebten und
arbeiteten hier. Alle Sprachen der Monarchie wurden gesprochen. Ein eigener Stra-
ßenbahnzug verkehrte viermal täglich zwischen dem Stammhaus und dieser Anlage,
die schon von Zeitgenossen als „Invaliden-“33 und „Barackenstadt“34 bezeichnet wurde.
Und tatsächlich war es eine Stadt für sich oder – folgt man der Terminologie man-
cher Beschreibungen – ein Betrieb für sich : eine fabriksmäßige Anlage, die nach dem
Muster großer Industriebetriebe an der Wiederherstellung von Kriegsbeschädigten
arbeitete und aus verwundeten Soldaten erwerbsfähige Zivilisten machen sollte. Da-
rüber, wie dies am besten zu bewerkstelligen sei, hatte Spitzy, der sein Unternehmen
publizistisch gut vermarktete35 und auch in der Akquirierung von Mitteln aus Kreisen
des Adels und der Großindustrie sehr erfolgreich war,36 klare Vorstellungen. Die Kon-
zentration der orthopädischen Nachbehandlung, der Arbeitstherapie und der Schu-
lung in einer Einrichtung war sein Plan gewesen. Für Hans Spitzy waren diese drei
Bereiche, wie er bei einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Krüppelfürsorge Anfang
Februar 1916 in Berlin ausführte, „ein untrennbares Ganzes […], von dem jeder Teil
dem anderen unentbehrlich ist und jeder Teil wieder in seiner Lebensbetätigung die
unbedingte Grundlage des anderen bildet“.37 Grundsätzlich sprach er auch der Groß-
anstalt das Wort. Dezentralisierung war seiner Meinung nach nur eine Zersplitterung
wertvoller Arbeitskraft, effiziente Ausnützung der vorhandenen personellen Ressour-
cen durch weitgehende Arbeitsteilung aber war sein erklärtes Ziel. Was hier entstand,
war also ein modernes, geradezu tayloristisch organisiertes Unternehmen.
Ein solches Unterfangen verlangte – ganz der militärischen Logik folgend – eine
straffe Organisation und konnte wohl auch nur deshalb so gut gelingen, weil die
Patienten der Anstalt in den allermeisten Fällen noch Angehörige der Armee und
der militärischen Befehlsgewalt unterworfen waren. Man darf nicht vergessen, dass
es sich bei den Invalidenschulen in Wien-Favoriten – auch wenn die pädagogische
31 Spitzy, Orthopädisches Spital, S. 116.
32 Dorn, Heimatbuch, S. 134f, zit. in : Mooshammer/Mörtenböck, Schleierbaracken, S. 7f.
33 Pokorny, Arbeitstherapie, S. 79.
34 Spitzy, Arbeitstherapie, S. 1.
35 Siehe vor allem Spitzy, Organisation.
36 Siehe vor allem Pokorny, Arbeitstherapie, S. 79. Neben Drasche-Wartinberg, der den Grund für die
Invalidenschulen günstig verpachtete und in Ebreichsdorf ein landwirtschaftliches Gut zur Verfügung
stellte, unterstellten auch Clarissa von Rothschild und Helene von May ihr kleines Rekonvaleszenten-
heim in Ober St. Veit dem Reservespital. Prinzessin Croy spendete diverse Werkstätten. Die teuren
mechanischen Betriebe wurden vor allem von Großindustriellen gespendet.
37 Spitzy, Organisation, S.
3 und S.
12. Es greife „ein Rad in das andere und man kann sich leicht vorstellen,
dass nur eine bis in die Einzelheiten durchdachte und festgezogene Organisation imstande ist, diesen
Schulbetrieb zusammenzuhalten“, ebd., S. 10f.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die Wundes des Staates
- Subtitle
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Authors
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 586
- Categories
- Geschichte Nach 1918