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sie ihre souveräne Macht, sie wurde die
stete häßliche Genossin seiner ohnehin
nicht schönen Muse, von der Emil
Kuh treffend bemerkt, daĂź sie ihn an
das Gemach einer berĂĽchtigten Wiener
Aspasia-erinnerte, von der Kuh schreibt:
,man mußte in diesem Salon sich um«
gesehen haben, wo alles durcheinander
lag: die Möbel mit den Pretiosen,
die erstM Cavaliere mit den abge-
rissensten DandieS; ĂĽber dem FlĂĽgel
lag die Garderobe, kostbare Bildwerke
unter dem Trumeaur, reichgalonirte Be»
diente trugen Eis und Confect herum,
die Göttin selbst, die Haare mit Papillo-
ten aus einer Prachtausgabe des Taffo
gewickelt, lag mitten im Saale auf einem
persischen Teppich, im lĂĽstern derangirten
Morgenkleide und verzehrte — warme
WĂĽrstel". Ja die Zote, von Nestroy
eingeführt, bürgerte sich — wenn man
so sagen darf, denn richtiger heiĂźt es
nistete sich — wie eckles Ungeziefer in
allen — ja in allen — Kreisen der
Wiener Gesellschaft ein und, was das
Schlimmste ist, sie verdarb — das Volk
dem sie nun durch die Volsksanger, die
in Nestroy ihren obersten Gott erkann-
ten — erst tropfen-, dann löffel« und
zuletzt eimerweise eingeflößt wurde. Und
da zeigt sich wieder die alte Wahrheit
deS SaheS: tzuoä. liest <7ovi nou. lioet
dovi. Die haarsträubende Demoralifi»
rung des Wiener VolkSsängerthumS ist
eines der HauptĂĽbel, das Nestroy nicht
beabsichtigt, aber leider veranlaĂźt hat;
daS verkommene und nunmehr völlig an>
rüchig gewordene Volkssängerthum hatte
die immer noch fortschreitende Entsittli«
chung eines nicht zu kleinen Theils des einst
so biederen, wackeren, gemĂĽthlichen Wiener
KleinbĂĽrgers zur Folge, der jetzt nicht drei
Sätze über die Lippen bringt, von denen
nicht der eine mit einer Zote papricirt wäre. Aber nicht allein in diesen Krei«
sen, auch in den besseren, vielleicht selbst
in den besten, wirkt diejeS Uebel nach.
Einzelne der sarkastischen Sentenzen Ne»
stroy's, die er mit einer vitriolscharfen
Mimik und einer oft undesinirbaren Atti.
tude begleitete, wurden zu „geflügelten
Worten" im Munde der Wiener, die der
gelehrte Berliner Herr BĂĽchmann in
sein Werk nicht aufnehmen konnte, weil
er sie — in Fournier's „I'68prit äe3
gntrog" nicht vorfand. Jedes neue StĂĽck
Ne stroy'S — und die meisten fallen
in die vormärzliche Periode, in welcher
man sich noch um Theater wie heute um
ein Weltereigniß kümmerte — brachte ein
förmliches Nagoul von dergleichen Phra-
sen, die alsbald die Schlagworte der da>
malS politisch Mißvergnügten, der bla«
sirten ^6UQ6L86 äorsßi deren nicht mehr
weichen wollende übernächtige Frivolität
Nestroy auch auf seinem Gewissen hat,
und der Phrynen des Grabens, Salz«
grieses u. dgl. m. wurden; ja und Phra«
sen wie „DaS is classisch" — „Ich bin
der Mann, der für Geld Alles thut" —
„Das kennen mer schon" — „Da hab i
schon gnua" — „Gott sei Dank, ich Hab'S
nicht nöthig" — „Wer'S hat, kann'S
thun", und unzählige andere, die an
und fĂĽr sich ganz harmlose Satze find,
aber in Begleitung einer bezeichnenden
Mimik erst ihre Pointe — die Wespe
unter dem Rosenblatte — ahnen lassen,
wurden einheimisch auf der StraĂźe, in der
Kneipe, im Eaf6 und sei es nur gerade
herausgesagt — auch im Salon. Und
doch neben all dem Cynismus ist eS nicht
zu laugnen. daĂź in Nestroy eine tiefere
Natur, ja ein wirkliches Genie steckte; es
war ein urwĂĽchsiger Baum, der komische
Blätter und Blüthen trieb, die man frei«
lich oft. um sie zu erkennen, abstäuben
und säubern mußte. Dem »süßen Pöbel"
Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich
Nabielak-Odelga, Volume 20
- Title
- Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich
- Subtitle
- Nabielak-Odelga
- Volume
- 20
- Author
- Constant von Wurzbach
- Publisher
- Verlag der Universitäts-Buchdruckerei von L. C. Zamarski
- Location
- Wien
- Date
- 1869
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 13.41 x 21.45 cm
- Pages
- 514
- Keywords
- Biographien, Lebensskizzen
- Categories
- Lexika Wurzbach-Lexikon