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sen, jetzt auf die Phrase und Geberde ihres
Meisters Nestroy schwören. Wohin man
horcht, tönt sie in ihrer vielbedeutenden Zwei»
deutigkeit entgegen, wohin man sieht, grinst
sie mit der stereotyp gewordenen Haltung des
genialen Mimen dem Beschauer zu. Mehr
als man ahnt, hat diese'unheimliche Macht
im Wiener Leben Platz gegriffen, und noch
ist nicht abzusehen, wann sie zu ihrem Ab«
schlusse gelangen wird. Es ist eben die Wir-
kung einer so genialen Potenz, wie die
Nestroy'S, daß sie fortzeugend, selbst gegen
ihren Willen, ihren verderblichen Weg fort«
sehen muß; solche Kräfte sind mit einer Art
elementarer Unwiderstehlichkeit ausgerüstet,
die, was sie ergreift, mit sich fortreißt und
auch festhält. Ja wir nehmen keinen Anstand,
die Behauptung aufzustellen, daß ein großer,
ja vielleicht der größte Theil jener geistigen
Entnüchterung und Kühle, mit der das jetzige
Wien, namentlich was die Bühne betrifft,
an die Schöpfungen der Kunst herantritt, mit
auf Rechnung jener Nestroy'schen Phrase
und Gcberde zu sehen sei, deren Macht Jeder
an sich selbst erprobt hat. Uno wenn wir
selbst das Burgtheater, das vor allen dazu
berufen ist, den heiligen Funken der Begeifte«
rung auf seinem Herde zu wahren, hie und
da die Bahnen verlassen sehen, um auch
andere, nicht immer lobenswerthe Leckereien
für den überreizten Gaumen aufzusuchen,
sollte auch diese Erscheinung nicht aus jenem
Geiste der Zeit zu erklären sein. der aus der
Nestroy'schen Phrase und Geberde seine
Nahrung sog? Sollte die flüchtige Hast, die
man jetzt den classischen Meisterarbeiten unse«
rer Väter gönnt, um bei der nächstbesten, dem
Französischen nachgeschmiedeten Bluette noch
zu bereuen, daß man sie eben gegönnt hat.
nicht in unsichtbaren Canälen zu jenem Wege
führen, den der eben zur Kirchhofsruhe ein»
gegangene Altmeister vorgezeichnet hat? . . .
Nestroy war ein Product seiner Zeit, jener
nüchternen, zersetzenden, nivellirenden Zeit,
die mit hämischer Schadenfreude den Erschei«
nungen zu Leibe geht, und die Satyre der
realistischen Eingenommenheit an alles Ideale
legt. Die Natur hatte ihn so ausgestattet und
ihrem Rufe mußte er folgen. Es ist eben die
Zeit des UebergangeS, unter dem wir sowohl
Mitische als sociale und künstlerische Zu.
stände leiden sehen, die zumeist solchen Cha»
ratteren zur Geburtsftätte dient. Wie ver<
verblich der GeniuS dieses Mannes in seiner
Sphäre im Großen und Ganzen gewirlt haben mochte, er folgte hierin nur dem Wal»
ten eines Naturgesetzes, das sich zur Heilung
ungesunder Zustände derartiger Kräfte bedient.
Unser Volksleben wird einst wieder die volle
Rothe.der Genesung erlangen, das Ueber-
gangsstadium wird zum Abschlüsse kommen,
dann wird vielleicht auS jenen realistischen
Zerrbildern Nestroy's, die jedenfalls ein
bedeutendes Blatt in der Culturgeschichte ein»
nehmen werden, eine Saat aufgehen, deren
volle Frucht — ein echtes „Volksstück" sein
dürfte!" — Meynen über Nestroy. „Die
Elfenwelt Ferdinand Raimund's war kurz
nach dem Heimgange, ihres Schöpfers ver»
funken, und Nestroy kam, der das Wiener
Publicum mit derben Armen aus dem Rai '
mund'schen Wolkenwagen hob und auf das
Feld des Realen hinstellte. Es war ein ziem»
lich gewaltsamer, übergangloser Umschwung,
von welchem der Wiener Geschmack sich hin»
reißen ließ. ein Sprung auS dem heißen Dunst»
bade in die Kühlwanne. Nestroy unterwarf
die Wiener Volksbühne, bei welcher die Rai-
mund'sche Empfindsamkeit den Charakter
eines Nervenleidens anzunehmen drohte, einer
Gewaltcur, die eine starke Krisis zur Folge
hatte, aber ihren Zweck erreichte; er trieb
durch derbe materielle Gegengifte den durch
Raimund ibr eingeimpften Idealismus
heraus. Cs war eine Desinfecrion der eigen»
thümlichsten Art. Ein grober Philosoph, ein
Porträtmaler, bis zur Grausamkeit wahr, griff
er tief in den Vorrath menschlicher Gewöhn»
heiten, Begierden und Thorheiten, oft bis in
den unsauberen Schutt ihrer Fundamente,
und seine satyrische Indifferenz gesiel sich
dabei nicht selten in nahezu verletzenden Con«
trasten. Aus seinen Bildern stellte sich eine
zwar nicht tröstliche, nichtsdestoweniger aber
überzeugende Wahrheit heraus, und auch
solche Gemüther, welche sich gegen den Ueber-
gang sträubten, nöthigte sein sprudelnder, sar-
kastischer Witz durch eine Masse treffender und
vielfach sehr gerstreicher Beziehungen, sich ihm
zu beugen. Der Geisterwelt machte Nestroy
bloß anfangs einige Zugeständnisse, weil er
einsehen mochte, daß die Raimünd'schen
Traditionen sich nicht auf einmal beseitigen
ließen, aber seine Geister Lumpacivagabundus
und dessen Anhängsel waren im Grunde nur
Travestien der duftigen Wesen, die ,,DaS
Mädchen aus der Feenwelt" und der „Ver-
schwender" in ihre Obhut genommen hatten,
und so bald es ohne Aufsehen geschehen tonnte,
brach Nestroy entschieden und für immer
Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich
Nabielak-Odelga, Volume 20
- Title
- Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich
- Subtitle
- Nabielak-Odelga
- Volume
- 20
- Author
- Constant von Wurzbach
- Publisher
- Verlag der Universitäts-Buchdruckerei von L. C. Zamarski
- Location
- Wien
- Date
- 1869
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 13.41 x 21.45 cm
- Pages
- 514
- Keywords
- Biographien, Lebensskizzen
- Categories
- Lexika Wurzbach-Lexikon