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Stifter 3s Stifter
da zu athmen glauben, wo uns der Dicht,
in ein gar enges Stübchen des vierte»
Stockes führt, von welchem aus wir nicht«
sehen alS ein kleines Stück Nachthimmel
Kunstkenner weiden ihn daher wohl in di«
Classe der Idealisten versetzen, und es kam
ihnen nicht an Gründen für diese Maßrege
fehlen, Leser, die nur Stoss und immer Stoff,
die aub einer Begebenheit, aus einer Leiden«
schaft in die andere taumeln wollen, werden
unseren Dichter einen Phantasten nennen,
dem, trotz aller Plastik, die eigentliche, di,
wirtliche Wirtlichkeit sa fremd sei. wie di<
Wolk-n von gestern. Beide mögen Rechi
behalten. Jene dagegen, die inAdalber
St i f ter einen Geist erkannten, der die Na.
tur wie das Menichenherz gleich klar und
sicher durchschaut und darstellt, müssen au
den Schatz hindeuten, dessen Werth uno
Größe aus den vorliegenden Blättern zu
Tage leuchtet, sich der Hoffnung hingeben
daß aus dem Idealisten und Phantasten
schon ein Dichter hervorschreite, welchem in
der Gegenwart ein Ehrenplatz mit vollem
Rechte gebührt." — In einer kritisch'biogra«
phischen Darstellung der österreichischen Dick»
:er des Vormärz, welche die „Leipziger
I l lustr i r te Zeitung" (i846. S. <26)
brachte, heißt es anläßlich St i fter'S: „Karl
Bect, Eduard Dul ler . Kuranda, Her«
loßsohn, Drerler» Manfred. Jacob
Kaufmann, Moriz Hartmann. Joseph
Rank sind Oesterreicher, und sie schleppen
die Pfähle ihres ZelteS von einer Stadt zur
anderen. Es ließe sich ein eigener Artikel
„Literarische Beduinen" und wieder ein trüb.
sinniges Märchen „Heimatlos" schreiben —
der Stoss dazu liegt auf der stachen Hand
— man dürfte diese Hand nur zur Faust
ballen und eine Feder hineinzwängen. Es
gibt wieder Dichter, denen die Heimat so
recht ans Herz gewachsen, die sich darin glück-
lich fühlen — eine ruhige, in sich abgeschlos-
sene Persönlichkeit, die den Unwillen nicht
kennt, erhält sie in der Schwebe über alle
Bewegungen der Zeit — eö sind dieS die
„Stillen im Lande" — Ad albert St i f .
ter. der sich schnell in Deutschland und
Oesterreich eine seltene Anerkennung verschafft,
ist hiefür ein gutes Beispiel. S t i f te r , mit
dem die österreichische Kritik lange nicht
zurecht kommen konnte, da er es anders
trieb, als all die Anderen, ist den Anderen
bald über den Kopf gewachsen und veiintt
glänzend die heimische Prosa. Seine Novel« len. meist Stillleben mit einer prächtigen
Naturanschauung, sind prosaische Meister,
werke. St i f ter hat sich nie mit der Lärm»
trommel vor die Thüre gestellt -- er hat
mit Weibe und Begeisterung gedichtet, und
nun sind alle jene ruhig gedachten, poetisch
empfundenen, künstlerisch ausgeführten Ar.
beiten. die er bescheiden „Studien" getauft.
Meisterstücke der deutschen Nooellistik gewor»
den — ein allgemeiner Erfolg krönte sein
erstes, eckteS und rechtes Schaffen. I n diesen
Novellen ist nichts zu finden von jener
widerlichen LebenSanschauung. die in vielen
sogenannten „Tendenzromanen" Orgien feiert.
Der Stoss fände Raum in einer Haselnuß,
und dennoch schlägt man darin gerne Blatt
für Blatt um und findet auf jedem Blatte
Dinge, die man wohl selber erfahren, die
aber nie in solch poetischer Verklärung wie hier
zum Ausspruch kommen. St i f ter 's Novellen
sind Idyllen der socialen Welt und dürfen mit
Recht Auerba ch's herrlichen Dorfnovrllen
an tie Seite gestellt werden. — Treffend
ist, was in einem Ber l iner Blat te zu An-
fang der Fünfziger»Iahre — leider kann ich
den Titel des BlatteS nicht angeben — ein
ungenannter Kritiker schreibt, nachdem die
sechs Bändchen der „Studien" tll>50) voll-
ständig erschienen waren. „S t i f te r ist ein
Dichter", heißt es in diesem Urtheil, „er hat
freilich die Fesseln des SylbenmaßeS und
des Reimes abgeschüttelt und läßt die sanfte
Strömung tief poetischer Empfindungen in
freier, ungebundener Rede sich ergießen, aber
er ist darum nicht weniger ein Dichter.
Seine Empfindung ist nicht d« so vieler
Dichter gleich, die bei ihren Herzrnsergießun»
gen durch Maßlosigkeit und Ueberfchweng,
lichtett sich selbst zerrütten. eS ist nicht der
Ocean, über den die Stürme hinbraufen
und in dem alle Flüsse zusammenrauschen,
sondern jene unterste, lebendige und tiefe
Quelle, die nur in einem leisen, keinem
menschlichen Ohre vernehmbaren Strömen
begriffen, ihre stets frischen Perlen an die
Oberfläche des hingleitenden NächleinS auf-
steigen läßt. Daher auch die ruhig fließende
Prosa; die seinem Gemüth entsprechende
Form für seine Schöpfungen ist gleichsam
das unüderkleidete. ungeschmückte Herz der
Dichtung mit feinen gleichmäßigen, fieber-
freien Pulsschlägen. Daß einem so edlen,
tief poetischen Gemüth, wie S t i f te r es
überall verräth, auch nur eine edle. schöne
Sprache zum Ausdrucke seiner Anschauungen
Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich
Stifft-Streel, Volume 39
- Title
- Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich
- Subtitle
- Stifft-Streel
- Volume
- 39
- Author
- Constant von Wurzbach
- Publisher
- Verlag der Universitäts-Buchdruckerei von L. C. Zamarski
- Location
- Wien
- Date
- 1879
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 13.41 x 21.45 cm
- Pages
- 400
- Keywords
- Biographien, Lebensskizzen
- Categories
- Lexika Wurzbach-Lexikon