Seite - 6 - in Die Liebe der Erika Ewald
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Brutalitäten mit rastloser Sanftmut zu ertragen, löste in ihr ein dumpfes
Ruhebedürfnis aus, ein wortloses Verströmen aller Empfindungen, die die
Gewalt des Tages überwuchert hatte. Sie liebte es, in diesen wachen Träumen
sich selbst anzuvertrauen, weil ihr eine fast überreizte Schamhaftigkeit nie
gestattete, anderen nur eine Andeutung ihrer seelischen Erlebnisse zu geben,
ob auch ihre Seele unter dem Drucke ihrer ungesprochenen Worte bebte, wie
ein überreifer Obstbaumzweig unter der Last seiner Früchte schwankt. Und
nur ein leichter, ganz unmerklich feiner Zug um die schmalen blassen Lippen
verriet, daß Kampf und Ringen in ihr war und eine unbändige Sehnsucht, die
sich nicht von Worten tragen lassen wollte und nur manchmal ein wildes
Beben um den festgeschlossenen Mund legte wie von jähem Schluchzen.
Das Abendessen war bald zu Ende. Der Vater erhob sich, sagte kurz einen
Gutenachtgruß und ging in sein Zimmer, um sich die Pfeife anzuzünden. Das
war so jeden Tag in diesem Hause, wo auch die gleichgültigste Tätigkeit zu
starrer Gewohnheit versteinerte. Und auch Jeanette, ihre Schwester holte sich
wie immer ihr Nähzeug her und begann beim Lampenlicht, stark vorgebeugt
wegen ihrer Kurzsichtigkeit, mechanisch zu sticken.
Erika ging in ihr Zimmer und begann sich langsam zu entkleiden. Es war
diesmal noch sehr früh. Sonst pflegte sie bis tief in die Nacht hinein zu lesen,
oder sie lehnte in einem süßen Gefühle am Fenster und blickte hoch von oben
über die hellen mondscheinbeleuchteten Dächer, die sich in lichter Silberflut
badeten. Sie hatte da nie klare, zielstrebende Gedanken, nur das unbestimmte
Gefühl einer Liebe für das Schimmernde, Blitzende und doch so sanft
Verströmende des Mondlichtes, das die Tausende von Scheiben blank
spiegelte, hinter denen sich die Geheimnisse des Lebens bargen. Aber heute
empfand sie eine sanfte Mattigkeit, eine selige Schwere, die sich sehnt von
milden, warm anschmiegenden Decken getragen zu werden. Eine
Schläfrigkeit, die nichts anderes ist als Sehnsucht nach süßen, seligen
Träumen, rann durch alle Glieder wie ein sacht erkaltendes, betäubendes Gift.
Sie raffte sich auf, warf beinahe mit Hast die letzten Kleidungsstücke von
sich, verlöschte die Kerze. Einen Augenblick noch – und dann dehnte sie sich
im Bette… .
Wie ein hurtiges Schattenspiel tanzten noch einmal die seligen
Erinnerungen des Tages vorbei. Sie war heute bei ihm gewesen… ..
Gemeinsam hatten sie wieder geprobt zu ihrem Konzert, wo ihr Spiel seine
Geige begleiten sollte. Und dann spielte er ihr vor – Chopin, die Ballade ohne
Worte. Und dann die sanften lieben Worte, die er ihr sagte, die vielen lieben
Worte!
Die Bilder eilten immer rascher vorbei, sie führten sie wieder nach Hause
zu sich selbst, um rasch wieder hinwegzuirren in die Vergangenheit, zu dem
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik