Seite - 10 - in Die Liebe der Erika Ewald
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das sie noch keinem anvertraute und manches, das ihr selbst bisher noch nicht
zum Bewußtsein gekommen war. Später konnte sie es selbst nicht begreifen,
wieso sie ihre stete, fast ängstliche Zurückhaltung damals überwunden hatte,
später, als er ihr näher getreten war, ihr Freund und Vertrauter wurde. Denn an
jenem Abend erschien ihr ein Künstler, ein Schaffender noch wie ein
Gewaltiger, der nie in das Leben tritt, sondern in Fernen lebt, unnahbar und
überragend, ein Verstehender und Gütiger, dem man nichts verschweigen
darf. Bisher waren nur schlichte Leute in ihren Kreis getreten, Menschen, die
sich zerlegen und berechnen ließen, wie eine Schulaufgabe, vorurteilsvolle
und konservative Ketzerrichter, denen sie sich fremd fühlte, und die sie
beinahe fürchtete. Und dann: es war eine stille und helle Nacht gewesen. Und
wenn man in solchen schweigenden Nächten zu zweit geht, von niemandem
gehört und gestört, und sich die dunklen Schatten der Häuser über die
Worte senken und die Stimmen ohne Nachhall in der Stille verwehen, da ist
man so vertrauensvoll, als ob man zu sich selbst spräche. Da wachen
Gedanken aus den Tiefen auf, die in der bunten Unrast des Tages ungehört
untergehen und denen erst die Stille des Abends sanfte Schwingen gibt; und
die Gedanken werden zu Worten fast ohne daß man es will.
Der lange Gang in der einsamen Winternacht hatte sie einander nahe
gebracht. Als sie sich zum Abschied die Hände reichten, blieben ihre blassen
kühlen Finger lange hilflos in seiner starken Hand liegen wie vergessen. Und
sie gingen wie alte Freunde voneinander.
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik