Seite - 14 - in Die Liebe der Erika Ewald
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sehnsüchtige fremde Volksmelodie, die in allen seinen Variationen immer
wieder dasselbe stammelte, weinte und jauchzte. Er dachte an nichts mehr,
seine Gedanken waren fern und verwirrt, nur das strömende Gefühl seiner
Seele formte mehr die Töne und gab sich ihnen zu eigen. Das enge dunkle
Zimmer überflutete von Schönheit… .. Die roten Wolken waren schon
schwere, schwarze Schatten geworden, und er spielte noch immer. Längst
hatte er schon vergessen, daß er dieses Lied nur ihr als Huldigung spielte;
seine ganze Leidenschaft, die Liebe zu allen Frauen der Welt, zum Inbegriff
des Schönen wachte in den Saiten auf, die in seliger Inbrunst erschauerten.
Immer wieder fand er eine neue Steigerung und eine wildere Gewalt, aber nie
die verklärende Erfüllung, es blieb auch im rasendsten Aufschwung immer
nur Sehnsucht, stöhnende und jauchzende Sehnsucht. Und er spielte immer
weiter, wie einem bestimmten Akkord zu, einer abschließenden Auflösung
entgegen, die er nicht finden konnte.
Plötzlich brach er jählings ab… . Erika war mit einem dumpfen
hysterischen Schluchzen auf dem Sofa zusammengebrochen, von dem sie sich
in ihrer Ekstase erhoben hatte, wie angelockt von den Tönen. Ihre schwachen
reizbaren Nerven unterlagen stets dem Zauber einer Gefühlsmusik; sie konnte
weinen bei wehmütigen Melodien. Und dieses Lied mit seiner drängenden,
aufpeitschenden Erwartung hatte in ihr alle Gefühle erregt, ihre Nerven in
eine furchtbare atemlose Spannung versetzt. Wie einen Schmerz empfand sie
die Wucht dieser niedergehaltenen Sehnsucht, sie hatte ein Gefühl, als ob sie
aufschreien müßte unter dieser engenden Qual, aber sie vermochte es nicht.
Nur in einem jähen Weinkrampfe löste sich ihre gesteigerte physische
Erregung.
Er kniete bei ihr nieder und suchte sie zu beruhigen. Er küßte ihr leise die
Hand. Aber sie bebte noch immer, und manchmal lief ein Zucken über ihre
Finger wie von einem elektrischen Schlage. Er sprach ihr freundlich zu. Sie
hörte nicht. Da wurde er immer inniger und küßte mit heißen Worten ihre
Finger, ihre Hand und küßte ihren bebenden Mund, der unbewußt unter
seinen Lippen erschauerte. Seine Küsse wurden immer drängender,
dazwischen stieß er zärtliche Liebesworte hervor und umfaßte sie immer
stürmischer und verlangender.
Mit einem Male fuhr sie aus ihrem Halbtraum und stieß ihn beinahe mit
Heftigkeit zurück. Er stand erschrocken und unsicher auf. Einen Augenblick
blieb sie noch stumm, wie um sich an alles zu besinnen; dann stammelte sie
mit unruhigem Blick und gebrochener Stimme, er möge ihr verzeihen, sie
habe öfters so nervöse Anfälle, und die Musik habe sie erregt.
Einen Augenblick blieb ein peinliches Schweigen. Er wagte nichts zu
antworten, weil er fürchtete, eine niedrige Rolle gespielt zu haben.
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik