Seite - 26 - in Die Liebe der Erika Ewald
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Es gibt leere, inhaltslose Stunden, die Schicksal in sich bergen. Sie steigen auf
wie dunkle gleichgültige Wolken, die kommen, um sich wieder zu verlieren,
aber sie bleiben hartnäckig und trotzig. Und wie ein schwarzer,
steigender Rauch lösen sie sich auf, werden ferner und breiter, bis sie
schließlich mit mattem, schwermütigem Grau unbeweglich über dem Leben
schweben, ein Schatten, der sich unabwendbar und eifersüchtig an die Minute
heftet und immer wieder seine drohende Faust erhebt.
Erika lag auf dem Sofa in ihrem dunkel heimlichen Zimmer, den Kopf in
die Kissen gepreßt und weinte. Sie fand keine Tränen, aber sie spürte sie in
sich verfließen, heiß, quellend und anklagend, und manchmal lief der jähe
Schauer eines Schluchzens über ihren Körper. Sie fühlte, wie ihr diese
schmerzvollen Minuten Erlebnis wurden, wie mit der ersten großen
Enttäuschung sich das Leid tief in ihre Seele einsog, die sich ihm ahnungslos
erschloß. Eigentlich bebte der Triumph in ihrem Herzen, daß ihr die Flucht
gelungen war, noch im letzten entscheidenden Augenblicke, aber es wollte
keine helle, blinkende Freude und kein Jubel werden, sondern blieb stumm
wie ein Schmerz. Denn es gibt Naturen, in denen alle großen Ereignisse und
alle überragenden Geschehnisse mit der allgemeinen Erschütterung der Seele
auch die vorklingende dumpfe Saite einer verborgenen Schmerzlichkeit und
innigen Melancholie anschlagen, deren Klingen so laut und drängend wird,
daß alle anderen Stimmungen sich selbstlos in ihr auflösen. Und so war die
Erika Ewald. Sie trauerte um ihre Liebe, die jung und schön gewesen war, wie
ein spielendes Kind, das sich im Leben verliert. Und Scham war in ihr, heiße
brennende Scham, daß sie entflohen war wie ein stummes hilfloses Wesen,
statt ehrlich zu sein und zu ihm zu sprechen, kühl und mit herbem Stolz, dem
er sich hätte fügen müssen. Und sie dachte an ihn und ihre Liebe mit einem
seligen Schmerz und einer heißen Ängstlichkeit, und alle Bilder kamen
wieder und wirrten durcheinander, aber sie waren nicht mehr hell und froh,
sondern dunkel beschattet von der Wehmut der Erinnerung.
Draußen ging eine Türe. Sie erschrak jäh und unvermittelt. Ängstlich
horchte sie jedem Geräusch und suchte sich jede leise Klangerregung zu
deuten in einem unbestimmten Gedanken, den sie nicht recht zu denken
wagte.
Da trat ihre Schwester ein.
Erika war verwirrt. Sie erstaunte, daß sie nicht daran, nicht an das
Nächstliegende gedacht hatte, daß ihre Schwester kommen müsse, und sie
spürte wieder mit einem merkwürdigen Gefühle, wie fremd, wie ungeheuer
fern ihr doch alle diese Leute waren mit denen sie lebte.
Die Schwester begann sie über den Nachmittag zu fragen. Erika antwortete
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik