Seite - 29 - in Die Liebe der Erika Ewald
Bild der Seite - 29 -
Text der Seite - 29 -
So gingen zwei Wochen dahin, ohne daß Erika eine Nachricht von ihm
empfangen hätte. Alles schien vorüber zu sein und vergessen. Ihre Traurigkeit
und Unbeständigkeit verlor sich noch nicht, aber sie befreite sich von ihrer
häßlichen, gereizten Form und fand verfeinerten und durchgeistigten
Ausdruck. Die schmerzlichen Empfindungen lösten sich leise und lind in
schwermütigen Liedern, Melodieen mit tiefen, verhaltenen Mollklängen und
melancholisch wehklingenden Akkorden. Manche Abende spielte sie so ohne
Gedanken, sich in sanfter Abirrung vom eigentlichen Motive zu
selbstgeschaffenen Verbindungen hinwendend, immer leiser und leiser
werdend wie die Geschichte ihrer so leidvollen Liebe, die nun langsam in
Vergangenheit verrinnen wollte.
Auch begann sie wieder zu lesen. Jene herrlichen Bücher wurden ihr
wieder nahe, denen die Schwermut entströmt wie ein schwerer betäubender
Duft aus seltsam dunklen und melancholischen Blüten. Die Maria Grubbe
kam ihr wieder zur Hand, der das harte Leben eine heilige und tiefinnige
Liebe zerstört, und die unglückliche Madame Bovary, die nicht entsagen
wollte und ihr schlichtes Glück verstieß. Und das unsäglich rührende
Tagebuch der Maria Bashkirceff las sie, zu der die große Liebe nie gekommen
war, ob ihr auch ein reiches und sehnsuchtsvolles Künstlerherz
erwartungsvoll die Hände entgegenhielt. Und ihre gequälte Seele tauchte in
diesem fremden Schmerze unter, um den eigenen zu verlieren und zu
vergessen, aber manchmal kam ein Erschrecken über sie, in dem Furcht sich
dem Stolze verschwisterte; denn Worte kamen ihren Blicken entgegen, die
auch in ihrem eigenen Leben standen, und deren schicksalsschweren Sinn sie
verstand. Und nun fühlte sie, wie ihre Geschichte nicht Ungerechtigkeit und
Haß des Lebens verkündigte, sondern nur schmerzlich war, weil ihr der frohe
Tänzerschritt eines lachenden unbedeutenden Temperamentes fehlte, der
rasch vergessend die dunklen, aber geheimnisreichen Abgründe des
Schmerzes überspringt. Nur ihre Einsamkeit senkte sich noch drückend auf
sie herab. Niemand stand ihr nahe. Eine sonderbare Scham, sich mit ihren
Tiefen und geheimen Schönheiten einem Fremden zu geben, hatte sie von
allen Freundinnen abgewandt; und ihr fehlte auch der seligvertrauende
Glaube der Frommen, der zu einem Gotte spricht und ihm die
verschwiegensten Geständnisse zu eigen gibt. Der Schmerz, der von ihr
ausging, floß wieder in ihre Seele zurück, und dieses unaufhörliche
Sichselbstanvertrauen und Zergliedern gab ihr schließlich eine dumpfe
Müdigkeit und hoffnungslose Trägheit, die nicht mehr mit dem Schicksal
ringen wollte und mit seinen verborgenen Gewalten.
Sonderbare Gedanken überkamen sie, wenn sie vom Fenster auf die Gasse
herabsah. Sie sah Leute in wildem Durcheinander, Liebespaare, die in seliger
29
zurück zum
Buch Die Liebe der Erika Ewald"
Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik