Seite - 32 - in Die Liebe der Erika Ewald
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Es sollte alles anders kommen, als es Erika geträumt. Noch einmal trat die
Liebe in ihr Leben, aber sie war anders geworden; nicht mehr so still und
mädchenhaft nahte sie mit milden, segnenden Geschenken, sondern wie ein
Frühlingssturm, wie eine heiße, begehrende Frau, die brennende Lippen hat
und die tiefrote Rose der Leidenschaft im dunklen Haare trägt. Denn die
Sinnlichkeit der Männer ist nicht wie die der Frauen; bei jenen glüht sie vom
Anbeginne, von den Jahren der ersten Reife, aber zu manchen Mädchen
kommt sie vorerst in tausend Verhüllungen und Gestalten. Sie schleicht sich
als Schwärmerei ein und als selige Träumerei, als Eitelkeit und ästhetisches
Genießen, aber einmal kommt ein Tag, da wirft sie alle Masken von sich und
zerreißt die bergenden Hüllen.
Eines Tages war Erika alles bewußt geworden. Kein lautes Ereignis hatte
ihr die Erkenntnis abgezwungen und auch kein Zufall. Vielleicht war es ein
Traum gewesen mit verwirrenden Lockungen oder ein Buch mit heimlich
verführender Gewalt, vielleicht eine ferne Melodie, die sie plötzlich
verstanden oder ein fremdes, blühendes Glück – es war ihr nie klar geworden.
Sie wußte nur plötzlich, daß sie sich wieder nach ihm sehnte, aber nicht nach
gütigen Worten und schweigenden Stunden, sondern nach seinen kraftvollen
Armen und nach den heißen Lippen, die einstmals verlangend auf den ihren
gebrannt, ohne daß diese ihre stummen, bettelnden Worte verstanden.
Vergebens widerstrebte ihre mädchenhafte Scham diesem Bewußtsein; sie
suchte der früheren Tage zu gedenken, die nie auch nur ein schwacher Hauch
schwüler Sinnlichkeit durchzittert, sie suchte sich vorzulügen, daß diese Liebe
schon längst tot und begraben sei, indem sie jenes Abends gedachte, da sie
aus seinem Hause mit innerlichem Abscheu geflüchtet. Aber dann kamen
Nächte, da sie ihr Blut brennen fühlte von glühendem Begehren und ihre
Lippen in die kühlen Kissen sich einknirschen mußten, damit sie nicht
stöhnten und seinen Namen hinausschrieen in die stumme, mitleidslose
Nacht. Und da wagte sie sich nicht länger zu täuschen, und die Erkenntnis
machte sie erbeben.
Nun wußte sie auch, daß die dumpfen Wallungen, die sie in allen diesen
Tagen empfunden, nicht das Absterben ihrer schönen und hellen Liebe
bedeutet hatten, sondern das langsame Keimen dieser drängenden Gewalten,
die nun ihre Seele durchwühlten. Und mit sonderbarer Scheu dachte sie dieser
Neigung, die so schlicht und alltäglich gewesen war, und der doch unablässig
neue Schmerzen entsprossen, die feindlichen Kinder eines dunklen
Geschickes. In dieser Leidenschaft, welche wie ein später Herbst gekommen
war, der seine Früchte in die leeren, fröstelnden Felder wirft, einte sich die
Kraft der Unberührtheit mit der Fülle der unverbrauchten Jugendtage, die nie
unter den drängenden Krisen des Blutes gelitten. Eine stürmische, siegende
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik