Seite - 36 - in Die Liebe der Erika Ewald
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Der unerhörte Jubel, der seinem Spiele folgte, erweckte Erika erst wieder
aus ihren weltentrückten Träumen. Und in drängender Hast eilte sie dem
Ausgange zu, um ihn zu erwarten. Denn nun wußte sie auch die helle und
sonnige Antwort auf ihre letzte Frage, die sie beängstigt und sie
zurückgehalten, sich ihm zu schenken – nun war es ihr offenbar, daß er sie
noch immer liebte und glühender wie einst, mit einer viel schöneren, wilderen
und größeren Liebe. Sonst hätte er nicht all diesen Menschen den leuchtenden
Hymnus gesungen, den er ihr zur Feier und aus ihrer Liebe geschaffen, dieses
herrliche Lied, dessen Macht sie damals überwältigt und besiegt hatte, ohne
daß sie es geahnt. Aber heute wollte sie ihm die sorglich gehüteten Früchte
ihrer schenkenden Neigung zu Füßen legen, daß er sie selig erhöhe… ..
Mit Mühe drängte sie sich bis zum Ausgange durch, wo die Künstler
herabzukommen pflegten. Wenige Flammen erhellten das matte Dunkel; dort
drängten die Menschen nicht in so wilder Hast, und sie konnte sich ungestört
wieder ihren Träumen hingeben, die sich in seliger Sicherheit wiegten. Sie
hätte es doch schon lange, so lange wissen können, daß er sie nicht vergessen
könnte – dieser Gedanke kehrte immer wieder und einte sich mit fröhlichen
Verheißungen für die kommenden Tage. Mit übermütigem Lächeln dachte sie
an seine Überraschung, wenn er ahnungslos die Treppen herabkäme und sich
plötzlich der Wunsch verwirklichte, von dem er vielleicht eben geträumt. Und
wenn… …
Aber da kamen wahrhaftig schon Schritte, die immer lauter und näher
tönten. Unwillkürlich zog sich Erika mehr ins Dunkel zurück.
Lachend und plaudernd stieg er die Treppe hinab – zärtlich hinabgebeugt
zu einer Dame in spitzenbesetztem Kleide, einer kleinen, netten Sängerin von
der Oper, die irgend eine alte Operettenmelodie trällerte. Erika zuckte
zusammen. Da bemerkte er sie. Instinktiv griff er nach dem Hut, aber ließ die
Hand auf halbem Wege müßig sinken. Ein böses, beleidigtes und höhnisches
Lächeln schien auf seinen Lippen zu lauern, aber er wandte den Kopf zur
Seite. Und dann führte er die kleine Dame im Spitzenkleid zu seinem Wagen,
half ihr hinein und stieg selbst ein, ohne den Blick noch einmal
zurückzuwenden zur Erika Ewald, die dort einsam stand mit ihrer verratenen
Liebe.
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik