Seite - 37 - in Die Liebe der Erika Ewald
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Solche Erlebnisse erwecken oft mit ihrer jähen Gewalt ein Leid, das so
furchtbar und tiefeinschneidend ist, daß man es nicht mehr als Schmerz
empfindet, weil man die Fähigkeit des Begreifens und des bewußten Fühlens
in seinem wilden Anpralle verliert. Man fühlt sich nur sinken, aus
schwindelnden Höhen atemlos, willenlos und widerstandsunfähig
herabsausen, einem Abgrunde zu, den man noch nicht kennt, den man aber
ahnt, näher, näher und immer näher kommen fühlt mit jeder Sekunde, mit
jeder verschwindend kleinen Zeiteinheit, die im wirbelnden Sturze verfliegt,
jenem furchtbaren Ende zu, von dem man weiß, daß es zerschmettern und
zerbrechen wird.
Erika Ewald hatte schon zu viel kleine Leiden ertragen, um einem großen
Ereignis ruhig ins Auge sehen zu können. Jene kleinen Schmerzlichkeiten
hatten ihr Leben erfüllt, die ein seltsames Glückseligkeitsgefühl in sich
tragen, weil sie zu melancholischen, träumerischen Stunden leiten, zu sanften
Verzagtheiten und zu jenen süßen Traurigkeiten, aus denen die Dichter ihre
innigsten und wehmütigsten Verse schaffen. Aber sie hatte in jenen Stunden
schon die mächtige Pranke des Schicksals zu verspüren geglaubt, und es war
doch nur ein verrinnender Schatten seiner drohend ausgereckten Hand. Sie
hatte gemeint, die finstere Gewalt des Lebens schon getragen zu haben und
auf dieses Bewußtsein baute sie ihre starke Sicherheit, die jetzt
zusammenbrach unter der Wirklichkeit wie ein Kinderspielzeug in einer
nervigen Faust.
Und darum verlor ihre Seele so ganz ihre bindenden Kräfte. Das Leben
kam zu ihr wie ein Hagelschauer, der Saaten und Blüten zerbricht. Nur mehr
Öde war vor ihren Blicken und Finsternis, weite undurchdringliche Finsternis,
die alle Wege versteckte, alle Blicke erblindete und die hallenden Angstrufe
mitleidslos verschlang. Nur mehr Schweigen war in ihr, ein dumpfes,
atemloses Schweigen, die Stille des Todes. Denn viel war in ihr gestorben in
einem einzigen Augenblick: ein helles heiteres Lachen, das noch nicht
geboren war, aber in ihr Leben wollte, wie ein Kind, das zum Lichte strebt.
Und viel Jugend, jenes sehnsüchtige Empfangenwollen, das der Zukunft
vertraut und Freude und Glanz hinter allen verschlossenen Pforten ahnt, die
ihr Verlangen sich eröffnen soll. Und viel lautere und weltvertrauende
Empfindungen, das Sichhingeben an alle Menschen und an die große Natur,
die nur Feste und Wunder ihren gläubigen Schülern offenbart. Und endlich
eine Liebe, die unendlich reich gewesen war, weil sie in den dunklen Quellen
des Schmerzes sich gebadet hat und durch wechselnde Gestalten gegangen ist,
um die Vollkommenheit zu finden.
Aber auch eine neue Saat war in dieser Enttäuschung, ein bitterer Haß
gegen alles, was sie umgab und ein heißes Rachebedürfnis, das noch nicht
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik