Seite - 41 - in Die Liebe der Erika Ewald
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vergessen haben. Und das wollte sie… ..
In solchen Augenblicken der Überlegung bekamen ihre Augen einen
träumerischen Ausdruck, und in ihrem Gesichte zeichnete sich der düstere
Schatten eines inneren Schmerzes. Dann kam sie langsam ins Träumen
hinein … . ihre Finger zitterten leise … . sie hatte alles vergessen, und die
fernen versunkenen Bilder wollten langsam, ganz langsam wieder
auftauchen… ..
Dann erweckte sie wieder plötzlich ein Wort oder eine Berührung. Eine
Sekunde brauchte sie immer, um sich wieder recht in alles hineinzufinden,
aber dann faßte sie wieder ein Weinglas und leerte es auf einen Zug. Und
dann noch eines und noch eines, bis sie spürte, wie ihr der Arm schwer
herabsank… ..
Der Freiwillige hatte sich inzwischen herübergesetzt und ziemlich dicht an
sie angedrückt. Sie merkte es noch, aber scherzte ruhig weiter… … ..
Allmählich aber begann sie die Wirkung des Weins zu fühlen. Ihr Blick
wurde unsicher und sah wie durch trübe Wolken eines schweren
breitverströmenden Dunstes; und die zärtlichen und überredenden Worte, die
sie vernahm, schienen irgendwo von weiter, weiter Ferne herzukommen, ganz
verschwommen und verloren. Ihre Zunge begann zu lallen, und sie merkte,
wie trotz aller Bestrebungen ihr Gedankengang sich verwirrte und ein Blitzen
und Surren vor ihren Augen funkelte, gegen das sie sich nicht zu wehren
wußte. Aber mit der Müdigkeit, die sie immer enger und zärtlicher umfaßte,
kam auch jene Schwermut wieder, halb die lallende unmotivierte Melancholie
der Trunkenen, und halb der Schmerz, der schon den ganzen Abend ihre Brust
durchstürmte und sich noch immer nicht Bahn gebrochen hatte. Sie war ganz
in ihr Leid verloren, stumpf und gefühllos gegen die Außenwelt, taub gegen
alle Worte und sanften Liebkosungen.
Der junge Bursch verstand ihr Verhalten nicht ganz und eine Unsicherheit
überkam ihn, was er mit ihr beginnen sollte; er hielt sie für betrunken, wollte
sie jedoch bewegen, wach zu werden, weil er sich schämte, ihre Trunkenheit
sich zunutze zu machen. Aber ihre Apathie war nicht durch Zureden, noch
durch schmeichelnde Küsse zu lösen; er fächelte ihr Kühlung zu; als er aber
versuchte, ihr Kleid zu öffnen, geschah etwas Unerwartetes, das ihn
erschreckte.
Denn im Augenblicke, da er sie umfaßte, fiel sie ihm plötzlich in die Arme
und begann furchtbar zu weinen. Es war ein unendlich schreckvolles und
leidvolles Schluchzen, nicht das wehmütige Duseln eines Trunkenen, sondern
in ihrem Weinen war eine elementare Gewalt; wie ein Raubtier war es, das
jahrelang im Käfig gefesselt war und mit einem Male in wilder Gewalt die
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik