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Schranken durchbricht, es war ihr ganzer heiliger und tiefer Schmerz, der ihr
nur dunkel bewußt gewesen war und sich jetzt in bebenden Schauern erlöste.
Erika weinte aus tiefster Brust, alles, alles schien jetzt gut zu werden, da diese
glühende Last der Tränen und die drückende Bürde der nichtentladenen
Erregungen sich wie in mächtigen Gewitterstößen von ihr losrang; sie weinte
und weinte, jähe Schauer liefen über ihren hilflos angeschmiegten Körper,
aber die heißen Quellen ihrer Augen schienen nicht versiegen zu wollen; es
war, als spülten sie all das bittere Leid mit sich hinweg, das sich langsam
angesetzt hatte wie wachsende Kristalle, die sich verhärten und nicht weichen
wollen. Nicht ihre Augen weinten, ihr ganzer schmaler und biegsamer Leib
erbebte unter den harten Stößen, und ihr Herz erbebte mit.
Der junge Mann war diesem jähen und peinlichen Ausbruche gegenüber
gänzlich hilflos. Er suchte sie zu beruhigen, strich ihr leise und zärtlich über
die dunklen Flechten; wie aber ihre Anstrengungen sich immer verdoppelten,
kam ein sonderbares Gefühl mitleidsvoller Zuneigung über ihn. Er hatte noch
nie so weinen gehört, und dieses unerhörte Leid, von dem er nichts wußte,
dessen Größe er aber ahnen mußte, flößte ihm eine achtungsvolle Furcht vor
dieser Frau ein, die willenlos in seinen Armen lag. Wie ein Verbrechen
erschien es ihm, ihren Körper zu berühren, der zu schwach war, den
mindesten Widerstand leisten zu können; nach und nach kam ihm dann auch
zu Bewußtsein, daß er sehr großartig dabei handle, und diese kindliche Freude
an einem seltsamen Erlebnis stärkte seine Willenskraft. Er ließ einen Wagen
holen und begleitete sie, nachdem er von ihr die Adresse erfahren hatte, bis
zum Hause hin, wo er sich mit freundlichen und beruhigenden Worten
verabschiedete.
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik