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sind, als sie wissend unbemerkt bleiben. Er strich nach dem Souper über die
zerknüllten Tischtuchfalten vor ihrem Platze mit so zärtlichen und kosenden
Fingern, wie man wohl liebe und weichruhende Frauenhände streichelt; er
rückte alle Dinge ihrer Nähe mit hingebungsvoller Symmetrie zusammen, als
ob er sie zu einem Feste bereite. Die Gläser, die ihre Lippen berührt hatten,
trug er sich sorgsam in sein enges dumpfes Dachlukenzimmer und ließ sie im
perlenden Mondlicht nächtlich auffunkeln wie köstliches Geschmeide. Stets
war er aus irgend einem Winkel der geheime Behorcher ihres Schreitens und
Wandelns. Er trank ihre Sprache so wie man einen süßen und
duftberauschenden Wein wollüstig auf der Zunge wiegt, und fing die
einzelnen Worte und Befehle gierig wie Kinder den fliegenden Spielball. So
trug seine trunkene Seele in sein armes und gleichgültiges Leben einen
wechselnden und reichen Glanz. Nie kam ihm die weise Torheit, das ganze
Ereignis in die kalten, vernichtenden Worte der Tatsächlichkeit zu kleiden,
daß der armselige Kellner François eine exotische, ewig unerreichbare Gräfin
liebte. Denn er empfand sie gar nicht als Wirklichkeit, sondern als etwas sehr
Hohes, sehr Fernes, das nur mehr mit seinem Abglanz des Lebens reichte. Er
liebte den herrischen Stolz ihrer Befehle, den gebietenden Winkel ihrer
schwarzen, sich fast berührenden Augenbrauen, die wilde Falte um den
schmalen Mund, die sichere Grazie ihrer Gebärden. Unterwürfigkeit schien
ihm Selbstverständlichkeit, und die demütigende Nähe niederen Dienstes
empfand er als Glück, weil er ihr zu danke so oft in den zauberischen Kreis
treten durfte, der sie umfing.
So ward in dem Leben eines einfachen Menschen plötzlich ein Traum
wach, gleich einer edlen und sorgfältig gezüchteten Gartenblüte, die an einer
Straße blüht, wo sonst der Wanderstaub alle Keime zertritt. Es war der
Taumel eines schlichten Menschen, ein zauberischer und narkotischer Traum
inmitten eines kalten, gleichtönigen Lebens. Und Träume solcher Menschen
sind wie die ruderlosen Boote, die ziellos in schaukelnder Wollust auf stillen,
spiegelnden Wassern treiben, bis plötzlich ihr Kiel mit jähem Ruck an ein
unbekanntes Ufer stößt.
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik