Seite - 48 - in Die Liebe der Erika Ewald
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Die Wirklichkeit ist aber stärker und robuster als alle Träume. Eines Abends
sagte ihm der feiste Waadtländer Portier im Vorübergehn: »Die Ostrowska
fährt morgen mit dem Acht-Uhr-Zug.« Und dann noch ein paar andre
gleichgültige Namen, die er überhörte. Denn ein wirres Brausen und Wirbeln
war aus diesen Worten in seinem Hirne geworden. Ein paar Mal fuhr er sich
mechanisch mit den Fingern über die gepreßte Stirn, als wollte er eine
drückende Schicht wegschieben, die dort lagerte und das Verständnis
umdämmerte. Er machte ein paar Schritte; es war ein Taumeln. Unsicher und
erschreckt glitt er an einem hohen goldgerahmten Spiegel vorbei, aus dem
ihm ein fahles und fremdes Gesicht kreidig entgegenstarrte. Die Gedanken
wollten nicht kommen, sie waren gleichsam festgemauert hinter einer dunklen
nebligen Wand. Fast unbewußt tastete er am Geländer die breite Treppe in den
umdämmerten Garten hinab, wo die hohen Pinien-Bäume einsam standen wie
finstere Gedanken. Noch ein paar Schritte wankte seine unruhige Gestalt,
gleich dem niederen und taumelnden Flug eines großen dunklen Nachtvogels,
dann sank er auf eine Bank, den Kopf an die kühle Lehne gepreßt. Es war
ganz still dort. Rückwärts zwischen den runden Sträuchern funkelte das Meer.
Weiche und zitternde Lichter glühten dort leise, und in der Stille verlor sich
der eintönig murmelnde Singsang fernplätschernder Brandungsquellen.
Und plötzlich war alles klar, ganz klar. So schmerzklar, daß er fast ein
Lächeln fand. Es war einfach alles zu Ende. Die Gräfin Ostrowska fährt nach
Hause, und der Kellner François bleibt auf seinem Posten. War dies denn so
seltsam? Gingen nicht alle die Fremden fort, die kamen, nach zwei, nach drei,
nach vier Wochen? Wie töricht, das nicht überdacht zu haben. Es war ja alles
so klar, zum Lachen, zum Weinen klar. Er lachte ganz laut in seinem jähen
ingrimmigen Schmerz. Und die Gedanken schwirrten und schwirrten. Morgen
abend, mit dem Acht-Uhr-Zug nach Warschau. Nach Warschau – Stunden und
Stunden durch Wälder und Täler, über Hügel und Berge, über Steppen und
Flüsse und durch brausende Städte. Warschau! Wie weit das war! Er konnte
es sich gar nicht ausdenken, aber im tiefsten fühlen, dieses stolze und
drohende, harte und ferne Wort: Warschau. Und er… ..
Eine Sekunde flatterte noch eine kleine träumerische Hoffnung auf. Er
konnte ja nachfahren. Und dort sich verdingen als Diener, als Schreiber, als
Fuhrknecht, als Sklave; als frierender Bettler dort auf der Straße stehn, aber
nur nicht so furchtbar ferne sein, den Atem derselben Stadt nur atmen, sie
manchmal vielleicht vorüberbrausen sehen, nur ihren Schatten sehen, ihr
Kleid und ihr dunkles Haar. Schon zuckten eilfertige Träumereien empor.
Aber die Stunde war hart und unerbittlich. Er sah das Unerreichbare nackt
und klar. Er rechnete: hundert oder zweihundert Francs Ersparnisse im besten
Falle. Das reichte kaum die Hälfte des Weges. Und was dann? Wie
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik