Seite - 52 - in Die Liebe der Erika Ewald
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endlich den tiefen, unruhig rauschenden Wald, der das Geleise in seinen
sinkenden Schatten begrub.
Es war schon spät, als er nun schweratmend am dunklen Hange des Waldes
stand. Schauerlich und schwarz reihten sich die Bäume um ihn. Nur hoch
oben in den durchschimmernden Kronen spann ein fahles zitterndes
Mondlicht in den Zweigen, die stöhnten, wenn sie die leise Nachtbrise in die
Arme nahm. Manchmal zuckten seltsame Rufe ferner Nachtvögel in diese
dumpfe Stille. Die Gedanken erstarrten ihm ganz in dieser bangenden
Einsamkeit. Er wartete nur, wartete und starrte, ob nicht unten ander Kurve
der ersten ansteigenden Serpentine das rote Licht des Zuges auftauchten
wollte. Manchmal sah er wieder nervös auf die Uhr und zählte die Sekunden.
Dann horchte er wieder nach dem fernen Schrei der Lokomotive. Aber es war
eine Täuschung. Ganz still wurde es wieder. Die Zeit schien erstarrt zu sein.
Endlich glänzte fern unten das Licht. Er fühlte in dieser Sekunde einen
Stoß im Herzen, wußte aber nicht, ob es Furcht oder Jubel war. Mit jäher
Gebärde warf er sich hin auf die Schienen. Zuerst fühlte er einen Augenblick
nur die wohlige Kühle der Eisenstreifen an seiner Schläfe. Dann horchte er.
Der Zug war noch weit. Minuten mochte es wohl dauern. Noch hörte man
nichts außer dem flüsternden Rauschen der Bäume im Wind. Wirr sprangen
die Gedanken. Und plötzlich einer, der blieb und sich wie ein schmerzhafter
Pfeil in sein Herz bohrte: daß er um ihretwillen starb und sie es nie ahnen
würde. Daß nicht eine einzige leise Welle seines aufschäumenden Lebens die
ihre berührt hatte. Daß sie nie wissen würde, daß ein fremdes Leben an ihrem
gehangen, an ihrem zerschmettert sei.
Ganz leise keuchte von ferne durch die atemstille Luft der rhythmische
Gang der steigenden Maschine. Aber der Gedanke brannte unvermindert und
folterte die letzten Minuten des Sterbenden. Näher und näher ratterte der Zug.
Und da schlug er noch einmal die Augen auf. Über ihm war ein schweigender
blauschwarzer Himmel und ein paar rauschende Kronen. Und über dem
Walde ein weißer blinkender Stern. Ein einsamer Stern über dem Walde… .
Schon begannen die Schienen unter seinem Kopfe leise zu schwingen und zu
singen. Aber der Gedanke brannte wie Feuer in seinem Herzen und in dem
Blicke, der alle Glut und Verzweiflung seiner Liebe faßte. Alle Sehnsucht und
diese letzte schmerzliche Frage fluteten über in den weißen leuchtenden
Stern, der mild auf ihn niedersah. Näher und näher schmetterte der Zug. Und
der Sterbende umfing noch einmal mit einem letzten unsagbaren Blick den
funkelnden Stern, den Stern über dem Walde. Dann schloß er die Augen. Die
Schienen zitterten und wankten, näher und näher stampfte der ratternde Gang
des fliegenden Zuges, daß der Wald dröhnte wie von großen hämmernden
Glocken. Die Erde schien zu taumeln. Noch ein betäubendes sausendes
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik