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ihre Worte wie ein sinnloses Geräusch an sich vorbeiströmen. Sein ganzes
Denken verlor sich immer wieder in dem einzigen Gedanken, daß er
weiterwandern müsse, um noch heute den Heiland zu sehen. Aber der
schwere Wein, den er achtlos trank, gab seinen Gliedern Müdigkeit und
Schwere, und mit der Sättigung überkam ihn auch das sanfte Gefühl einer
trägen Behaglichkeit. Und als die sinkende Willenskraft ihn nach dem Mahle
zu einem matten Versuche zwang, Abschied zu nehmen, hielt sie ihn mit
Hinblick auf die drückende Hitze des Nachmittags ohne viel Mühe zurück.
Und lächelnd verwies sie ihm seine Hast, die mit wenigen Stunden geize.
Wenn er schon Monate gezögert, dürfe er doch nicht mit einem einzigen Tage
rechnen. Und mit ihrem seltsamen Lächeln kam sie immer wieder darauf
zurück, daß sie allein zu Hause sei, ganz allein. Dabei bohrte sich ihr Blick
verlangend in den seinen. Und auch über ihn war eine seltsame Unruhe
gekommen. Der Wein hatte in ihm dumpfe Begierden geweckt, und sein Blut,
das in dem kochenden, verzehrenden Brande der Sonne geglüht, pochte in
seinen Adern mit einer seltsamen Schwüle, die sein Denken immer mehr
überwältigte. Und als sie ihr Antlitz einmal nah zu dem seinen neigte und er
den verlockenden Duft ihrer Haare einsog, riß er sie zu sich und küßte sie in
stürmischem Überschwang. Und sie wehrte ihm nicht…
Und er vergaß seiner heiligen Sehnsucht und dachte nur derer, die er in
seinen fiebernden Armen hielt, einen langen schwülen Sommernachmittag
lang.
Erst die Dämmerung erweckte ihn wieder aus seinem Taumel. Jäh, fast
feindselig riß er sich aus ihren Armen los, denn der Gedanke, er könnte den
Messias versäumt haben um eines Weibes willen, machte ihn furchterfüllt und
wild. In Hast nahm er seine Kleider, ergriff den Stab und verließ das Haus nur
mit einer stummen Gebärde des Abschieds. Denn wie eine Ahnung war es in
ihm, daß er dieser Frau nicht Dank sagen dürfe.
In unaufhörlicher Hast strebte er Jerusalem zu. Der Abend war schon
gesunken, und in allen Ästen und Zweigen bebte ein Rauschen wie von einem
dunklen Geheimnis, das die Welt erfüllte. Und ferne in der Richtung gegen
die Stadt zu lagen ein paar dunkelschwere Wolken, die langsam im Abendrote
zu glühen begannen. Und sein Herz erschrak in jäher und unverständlicher
Angst, wie er dieses grelle Zeichen am Himmel erkannte.
Atemlos legte er den Rest des Weges zurück, und schon lag das Ziel vor
seinen Augen. Er aber dachte immer wieder, daß er seiner Berufung untreu
geworden sei, um einer flüchtigen Wollust willen, und die dumpfe Schwere in
seinem Herzen wollte nicht leichter werden, ob er auch die hellen Mauern und
blanken Türme der heiligen Stadt erblickte und die leuchtenden Zinnen des
Tempels.
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik