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Der größere löste sich mit einem jähen Ruck aus der nassen Hülle: ein klares,
nicht aber ungewöhnliches Gesicht, zu dessen wohlbehäbigem, bürgerlichen
Schnitt die reiche Kaufherrntracht wohl paßte. Der andere war absonderlicher,
wenn auch nicht phantastisch gekleidet: seine sanften und ruhigen
Bewegungen harmonierten mit seinem etwas grobknochig-bäuerlichen, aber
gutherzigen Gesicht, dem die weiße Wucht der herabwallenden Haare die
Milde eines Evangelisten verliehen. Sie verrichteten beide eine kurze
Andacht; dann winkte der Kaufherr seinem älteren Begleiter zu, ihm zu
folgen, und sie gingen langsam und mit behutsamen Schritten in das
Seitenschiff, das fast ganz im Dunkel lag, weil die Kerzen unruhig im
feuchten Raume zitterten und vor den farbigen Scheiben die schwere Wolke
lag, die sich noch immer nicht erhellen wollte. Vor einer der kleinen
Seitenkapellen, die meist Stiftungen und Gelöbnisse der erbgesessenen
Familien enthielten, blieb der Kaufherr stehen, und mit der Hand gegen einen
der kleinen Altare hindeutend, sagte er kurz: »Hier ist es.«
Der andere trat näher und legte die Hand über das Auge, um die
Dämmerung besser zu durchdringen. Der eine Altarflügel trug ein lichtes
Bild, das im Dunkel nur noch weicher und milder in seiner Tönung zu werden
schien und den Blick des Malers sogleich fesselte. Es war die Muttergottes
mit dem vom Schwert durchbohrten Herzen, ein Bild, ganz sanft und
versöhnungsvoll trotz seines Schmerzes und seiner Traurigkeit. Ein seltsam
süßer Kopf war die Maria, nicht so sehr Mutter Gottes wie träumerische
blühende Jungfrau, der ein leiser schmerzlicher Gedanke die lächelnde Anmut
spielender Sorglosigkeit nimmt. Schwarze, dicht herabfließende Haare
umschlossen zärtlich angepreßt ein schmales, blaßleuchtendes Gesicht, aus
dem die Lippen rot entgegenbrannten, wie eine purpurne Wunde. Wundersam
fein waren die Züge, und manche Linie, wie der schmale und sichere
Schwung der Augenbrauen legten einen fast begehrlichen Schein und eine
spielerische Schönheit über das zarte Antlitz, aus dem die dunklen Augen
versonnen träumten, wie aus einer andern vielfarbigeren und süßeren Welt,
der sie ein banger Schmerz entführt. Die Hände waren sanft ergebungsvoll
gefaltet, und die Brust schien noch leicht schreckhaft zu erbeben vor der
kalten Berührung des Schwertes, dem entlang die blutende Spur ihrer Wunde
verströmte. All dies war in wundersamen Glanz getaucht, der ihr Haupt
golden überflammte, und selbst ihr Herz glühte nicht wie warmes rauschendes
Blut, sondern wie das mystische Licht des Kelches im farbigen Scheine der
sonnedurchleuchteten Kirchenscheiben. Und die fließende Dämmerung nahm
noch den letzten Schein der Weltlichkeit dieses Bildes, so daß der
Heiligenschein über diesem süßen Mädchenhaupte so lebendig glühte wie
wahrhaftiges Schimmern der Verklärung.
Beinahe ungestüm raffte sich der Maler aus seiner nachhaltigen und
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik