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Dieses Spiel währte nicht allzu lange. Das Kind ermüdete endlich bei dem
unablässigen Haschen, und auch Esther war befremdet, wie sie den alten
Mann plötzlich mit fieberhafter Glut und geröteten Wangen arbeiten sah;
wieder war in seinem Antlitz die gleiche visionäre Helle, wie an dem Tage, da
er von Gott und seinen tausendfältigen Wundern zu ihr gesprochen hatte, und
wieder fühlte sie begeistertes Erschauern für die Größe, die sich so ganz in
die schöpferischen Welten verlieren konnte. Und in dieses umfassende Gefühl
verlor sich ganz die kleine Beschämung, daß sie der Maler in dem
Augenblicke überrascht hatte, da sie ganz von dem Anblick des Kindes erfüllt
war. Sie sah nur eine Fülle des Lebens; und die Vielfältigkeit und Größe
solcher Momente ließen sie immer jenes Erstaunen wiederempfinden, das sie
zuerst gefühlt, als ihr der Maler die Bilder ferner und unbekannter Menschen,
traumhaft schöner Städte und üppiger Landschaften gezeigt hatte. Und die
Armut ihrer eigenen Tage und der monotone Gleichklang ihrer seelischen
Erlebnisse färbten sich am Rausche des Fremden und von der Pracht des
Fernen. Aber eigene Schöpfersehnsucht brannte tiefinnerst in ihrer Seele, wie
ein verborgenes Licht im Dunkeln, von dem niemand weiß.
Dieser Tag war eine Wende in Esthers und des Bildes Schicksal. Der
Schatten war gesunken. Nun ging sie mit hellen und hastenden Schritten zu
jenen Stunden, die ihr so flüchtig schienen, weil sie eine wechselnde Reihe
kleiner Erlebnisse aneinander ketteten, deren jedes ihr bedeutsam war, da sie
den Wert des Lebens nicht kannte und sich reich glaubte mit den kleinen
kupfernen Münzen unwertiger Begebnisse. Unmerklich trat die Gestalt des
alten Mannes in den Hintergrund gegen den unbehilflichen kleinen rosigen
Körper des Kindes. Ihr Haß war jählings in eine wilde und fast gierige
Zärtlichkeit umgeschlagen, wie sie Mädchen oft gegen Kinder und kleine
Tiere haben. Ihr ganzes Wesen erschöpfte sich in Beobachtung und
Liebkosung, unbewußtlebte sie den erhabensten Gedanken der Frau, die
Mutterschaft, in einem hingebenden leidenschaftlichen Spiel. Der Zweck
ihres Besuches entglitt ihr. Sie kam, setzte sich mit dem kleinen blühenden
Kinde, das sie bald erkannte und das ihr drollig entgegenlachte, in den breiten
Lehnstuhl und begann ihre innigen Tändeleien, ganz vergessend, daß sie um
des Bildes willen gekommen und daß sie einst dieses nackte Kind wie einen
Druck und eine Last empfunden hatte. Das schien ihr so ferne, wie einer ihrer
unzähligen falschen und verlogenen Träume, die sie früher in der dunklen
traurigen Gasse in langen Stunden emsig aneinander gesponnen hatte, und
deren Gewebe zerflatterte beim ersten vorsichtigen Atemzuge der
Wirklichkeit. Und nur in diesen Stunden glaubte sie auch jetzt noch zu leben;
ihr Verweilen zu Hause war ihr eine Fremde, wie die Nacht, in die man
schlafend hinabtaucht. Wenn sie mit ihren Fingern die dicken fleischigen
Händchen des Kindes umfaßte, fühlte sie, daß dies kein blutloser Traum war.
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik