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glücklichen, innigen Blicken einen Mutterblick. Ein stilles großes Werk
wuchs empor. Ganz schlicht war es. Ein spielendes Kind und eines Mädchens
sanft sich niederneigendes Haupt. Aber die Farben waren mild und klar, wie
er sie nie gefunden, und die Formen standen so scharf und klar, wie dunkle
Bäume gegen die heilige Glut des Abends. Es war, als müßte irgend ein
inneres Licht verborgen sein, von dem sich jene geheime Helle entzünde, eine
Luft in ihm weben, die weicher, umschmeichelnder und klarer sei als die aller
irdischen Welt. Nichts Überirdisches war darin und doch eine heimliche
Mystik des Lebens, das es geschaffen. Denn zum ersten Mal fühlte der alte
Mann, der in seiner langen emsigen Schaffenszeit stets sorglich Strich an
Strich gesetzt, ein inneres Wachsen und Werden an seinem Bilde, von dem er
nichts wußte. Wie in der alten Volksmäre die zauberischen Geister ihre Werke
erschufen, verborgen und doch mit so schaffender Eile, daß des Morgens die
Menschen mit staunenden Augen die nächtige Vollendung schauten, so fühlte
der Maler, wenn er nach Minuten schöpferischen Rausches vom Bilde
zurücktrat und es mit prüfendem Auge betrachtete. Wieder pochte der
Gedanke des Wunders an sein Herz, das kaum noch zögerte, ihm Einlaß zu
gewähren. Denn dieses Werk schien ihm nicht nur seines ganzen Ringens
leuchtende Blüte, sondern etwas viel Ferneres und Höheres, das sein niederes
Werk nicht würdig sei zu tragen, wenn auch als seine Krönung. Und seines
Schaffens Heiterkeit senkte sich tiefer und wurde fürchtige Stimmung, ein
Bangen vor diesem eigenen Werk, in dem er sich nicht mehr wieder zu
erkennen wagte.
So wurde auch er Esther ferner, denn sie schien ihm nur die Mittlerin des
irdischen Wunders, das er vollbracht. Mit alter Güte behütete er sie, aber
seine Seele erfüllte sich wieder mit den frommen Träumen, die er schon ferne
geglaubt. Die schlichte Kraft des Lebens ward ihm mit einem Male so
wunderbar. Wer konnte ihm Antwort geben? Die Bibel war alt und heilig, sein
Herz aber irdisch und stand noch tief im Leben. Durfte er da fragen, ob die
Schwingen Gottes hinabrauschten bis in diese Welt? Gingen noch heute
Zeichen Gottes durch die Welt, oder waren es nur schlichte Wunder des
Lebens?
Der alte Mann überhob sich nicht, da Antwort wissen zu wollen, so
Seltsames auch in seinem Leben geschah. Aber er war seiner selbst nicht
mehr so sicher wie einst, da er an das Leben glaubte und an Gott und nicht
nachsann, wer die Wahrheit war. Und jeden Abend umhüllte er sorglich das
Bild. Denn einmal in diesen Tagen, als er heimgekehrt war und der silberne
Schein des Mondes segnend über dem Bilde hing, da war es ihm, als hätte die
Gottesmutter ihm ihr Antlitz enthüllt. Und wenig fehlte, daß er sich betend
hingeworfen hätte vor seinem eigenen Werk… ..
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik