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denn der Zauber der Wirklichkeit war langsam gewichen und das
Doppelantlitz des Bildes schien ihm das vergeistigte Wesen jenes
wundervollen Schöpfertraumes, der ihm immer weniger Vollführung irdischer
Kraft schien, je weiter zeitlich die Erinnerung jenes Augenblickes zu
verdämmern begann. Jeder Versuch der Verbesserung schien ihm nicht nur
Torheit, sondern Sünde. Und im Innersten beschloß er, nach diesem Werke, da
seine Hand offenbarlich geleitet war, nicht weiteres Stümperwerk zu schaffen,
sondern seine Tage in tieferer Frömmigkeit und in Erspähung der Pfade zu
verbringen, die sein Leben emporführen könnten in jene Höhen, deren
goldenes Abendleuchten er in diesen späten Lebensstunden noch verspürt
hatte.
Esther spürte mit dem feinen Instinkte, den die Verwaisten und
Zurückgestoßenen in ihren Seelen wie ein geheimes Netzwerk empfindsamer
Fäden haben, das alle Worte und auch die verschwiegenen umspannt, die
leichte Entfernung des alten und ihr so lieben Mannes, und sie litt beinahe
unter seiner gleichen milden Zärtlichkeit; sie fühlte, daß sie gerade jetzt
seines ganzen Wesens und der befreiten Fülle seiner Liebe bedurft hätte, um
ihre Seele mit ihren wachsenden Schmerzlichkeiten offenbaren zu können
und Antwort zu verlangen von den Rätseln, die sie umringten. Sie horchte auf
den Augenblick, da sie die Worte aus sich befreien konnte, die in ihr drängten
und überschäumten, aber das Erwarten ward endlos und machte sie müde.
Und da wandte sie ihre ganze Zärtlichkeit dem Kinde zu. Ihr ganzes
Empfinden formte sie in diesen kleinen unbeholfenen Körper, den sie mit
heißer Gewalt umfing und küßte, so ungestüm und vergessend, daß das Kind
oft nur den Schmerz der Umarmung spürte und zu klagen begann. Dann
wurde sie zurückhaltend, behütend, beruhigend, aber auch diese Ängstlichkeit
war Ekstase, sowie ihr Empfinden kein mütterliches war, sondern ein
ängstlich-suchendes Emporwallen erotischer und dumpf sehnsüchtiger Triebe.
Eine Kraft in ihr drängte empor, und ihre Unwissenheit ließ sie an diesem
Kinde verschäumen. Es war ein Traum, den sie lebte, und eine schmerzliche
Betäubung; sie hielt sich nur krampfhaft an dieses Wesen, weil es ein warmes
Herz hatte, das pochte, so wie das ihre, weil sie alle Zärtlichkeiten, die in ihr
glühten, an diese stummen Lippen verschenken konnte, weil ihre Arme, in
denen eine unbewußte Sehnsucht war, ein Lebendes umklammern konnten,
ohne den Augenblick der Beschämung fürchten zu müssen, der sie überfiel,
wenn sie sich nur mit einem einzigen Worte einem Fremden anvertraut hätte.
Stunden und Stunden verbrachte sie so, ohne zu ermüden und ohne zu fühlen,
wie sie sich selbst betrog.
Dieses Kind umschloß nun für sie den Begriff des Lebens, nach dem sie
sich so wild gesehnt. Rings um sie verwölkten sich die Zeiten, sie merkte es
nicht. Abends standen die Bürger zusammen und sprachen von der alten
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik