Seite - 99 - in Die Liebe der Erika Ewald
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Kind war nicht, wie gewohnterweise, zur Stelle. Das beunruhigte sie, aber um
es nicht einzugestehen, trat sie auf den alten Mann zu und fragte ihn nach dem
Fortgang des Bildes. Das Blut stieg ihr in die Wangen bei dieser Frage, denn
mit einem Male fühlte sie die stumme Beleidigung aller dieser Stunden, in
denen sie nie Aufmerksamkeit weder ihm noch seinem Werke geschenkt. Die
Vernachlässigung dieses so gütigen Menschen drückte sie wie eine Schuld.
Aber er schien nichts zu bemerken.
»Es ist fertig, Esther,« sagte er mit einem leisen Lächeln, »und sogar schon
lange. Nächster Tage werde ich es übergeben.«
Sie wurde blaß. Eine böse Ahnung befiel sie, die sie nicht auszudenken
wagte. Ganz leise und verschüchtert fragte sie. »Und ich darf dann nicht mehr
zu Euch kommen?«
Er streckte ihr beide Hände entgegen. Es war die alte milde bezwingende
Gebärde, die sie immer wieder gefangen nahm. »So oft du willst, mein Kind.
Und je öfter, desto lieber. Du siehst ja, daß ich hier einsam bin in meiner alten
Stube und, wenn du da bist, dann ist es allein fröhlich und hell den ganzen
Tag. Komm oft, recht oft, Esther.«
Ihre ganze alte Liebe zu diesem Manne flutete auf, wie wenn sie nun alle
Dämme überrauschen wollte und sich in Worten ergießen. Wie groß und gut
war er! War seine Seele nicht wahr und die des Kindes nur ihr eigener Traum?
Ihr Vertrauen war wieder groß in diesem Augenblick, aber der Gedanke ihres
Lebens hing noch lastend über dieser reifenden Saat wie eine Gewitterwolke.
Der Gedanke an das Kind peinigte sie. Sie wollte diese Qual unterdrücken, sie
preßte das Wort immer hinab und hinab, aber es quoll auf, ein wilder
verzweifelter Schrei. »Und das Kind.«
Der alte Mann schwieg. Aber seine Züge wurden härter, beinahe
unbarmherzig. Daß sie in diesem Augenblicke, da er ganz ihre Seele sein
Eigen hoffte, seiner vergaß, das stieß ihn zurück wie ein zorniger Arm. Kalt
und gleichgültig sagte er: »Das Kind ist fort.«
Er fühlte ihre Blicke gierig und in einer rasenden Verzweiflung an seinem
Munde hangen. Aber die finstere Gewalt in ihm zwang ihn, trotzig und
grausam zu sein. Er fügte nichts hinzu. In diesem Augenblicke haßte er dieses
Mädchen, das so undankbar die viele Liebe vergaß, die sie von ihm
empfangen, und der gütige und so milde Mensch empfand die Wollust einer
Sekunde, sie zu quälen. Doch es war nur ein flüchtiger Moment der Schwäche
und eigenen Verneinung, der wie eine einsame Welle in diesem unendlichen
Meere der sanften Klärung verrann. Und, von dem Bangen ihres Blickes mit
Mitleid erfüllt, wandte er sich ab.
Aber sie ertrug nicht dieses Schweigen. Mit wilder Gebärde stürzte sie an
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik