Seite - 104 - in Die Liebe der Erika Ewald
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Gestühle hing. Und Frauen und Männer, deren Glauben sie haßte, waren rings
um sie, und ihre murmelnden Gebete überraunten die leisen Zärtlichkeiten,
die sie zu ihrem Kinde sprach. Aber sie fühlte alles nicht, ihr Herz war zu
verwirrt, um sich zu suchen und zu erspähen; sie gab sich nur blind an diesen
einen Wunsch hin, tagtäglich ihr Kind zu sehen und dachte nicht mehr an die
Welt. Die Stürme ihres reifenden Blutes hatten sich geklärt, alle Sehnsüchte
waren verloren oder verströmt in diesen einzigen Gedanken, der sie immer
und immer wieder hin zu dem Bilde trieb, wie ein magnetischer Zauber, den
keine Kraft zu lösen vermag. Nie war sie so selig gewesen, wie in diesen
langen Stunden in der Kirche, deren erhabene Feierlichkeit und geheime
Wollust sie fühlte, ohne sie zu verstehen. Und ihr einziger Schmerz war, daß
ab und zu ein Fremder vor dem Bilde kniete und gläubig aufblickte zu diesem
Kinde, das doch nur ihr, ihr allein gehörte. Dann flackerte der alte unbändige
eifersüchtige Trotz wild in ihr auf, eine Wut brannte in ihrer Seele, die sie
zum Schlagen und zum Weinen treiben wollte; ihr Sinn verwirrte sich mehr
und mehr in solchen Augenblicken, sie wußte nicht mehr zu scheiden
zwischen dieser Welt und der ihres Traumes. Und erst, wenn sie vor dem
Bilde hingestreckt ruhte, kam wieder die große Stille in ihr Herz. –
So war der Frühling mild und gütig gegangen, in dem sich die Schöpfung
vollendet hatte, und es schien, als wollte nun der Sommer nach all den
Stürmen und Blüten ihr die große, feierliche Mutterstille schenken. Die
Nächte wurden warm und hell, aber das Fieber war gewichen, und sanfte
zärtliche Träume neigten sich nieder auf Esthers Haupt. Nun schien ihr Leben
geklärt zu sein, ein gleiches Wiegen zwischen gleichen Stunden im Rhythmus
friedlicher Leidenschaft, und alle Ziele, die im Dunkel sich verloren, wollte
ihre hellen Wege deuten weit, weit in die Zukunft hinein.
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik