Seite - 105 - in Die Liebe der Erika Ewald
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Die Sommertage brachten endlich ihre leuchtendste Blüte, das Marienfest,
Flanderns schönsten Tag. Über die goldenen Felder, die sonst emsige
Arbeitsmühe erfüllt, schreiten die langen geschmückten Prozessionen mit
wehenden Wimpeln und sich bauschenden Fahnen. Wie eine Sonne leuchtet
die Monstranz über die Saaten, welche des Priesters erhobene Hände segnen,
und von betenden Stimmen ist so sanftes Gebrause, daß die Garben erzittern
und sich demütig neigen und neigen. Hoch aber in den Lüften rufen die hellen
Glocken unaufhörlich in die Ferne, und von weitherüberleuchtenden
Kirchentürmen antworten die freudigen Freundesstimmen, und ihr jubelndes
Schwingen ist gewaltig, als ob die Erde selbst singen würde und die trotzigen
Wälder und das rauschende Meer.
Und dieser Glanz strömt aus dem blühenden Lande in die Stadt und
überspült die drohenden Mauern. Das trostlose Gelärme der Handwerker
verstummt, die keuchenden Stimmen des Tagwerks schweigen; nur Spielleute
ziehen mit Pfeife und Dudelsack von Gasse zu Gasse und in ihr fröhlich
Musizieren jauchzen die hellsilbernen Stimmen der tanzenden Kinder. Die
seidenen Gewande, die in den bergenden Spinden das ganze Jahr verträumen
müssen, leuchten mit ihrem vergilbten Putz der Sonne entgegen; feiertäglich
geschmückt einen sich plaudernde Gruppen zum Kirchgange. In dem Dome
aber, dessen ladende Pforten mit blauen Weihrauchwellen und duftender
Kühle die Frommen empfangen, blüht ein Frühling von gestreuten Blumen
und üppigen Guirlanden, die sorgsame Hände um Bilder und Altäre gebreitet.
Tausende von Kerzen durchleuchten mit magischem Licht dieses duftende
Dunkel voll Orgelbrausen und Gesang, aus Tiefen und Höhen zittert
geheimnisvolles Leuchten und mystische Dämmerung.
Und dann scheint plötzlich diese fromme und fürchtige Stimmung sich auf
die Straßen zu ergießen. Ein Zug Andächtiger formt sich, die Priester heben
das vielberühmte Marienbildnis des Hauptaltars, das gleichsam umrauscht ist
von den Gerüchten vielervollbrachter Wunder, auf ihre Schultern und eine
feierliche Prozession beginnt. Und mit dem Bilde tragen sie gleichsam die
Stille unter die lärmenden Gestalten der Straße, denn ein Schweigen und
Neigen geht durch die Menge. Und so zieht eine breite Furche der Andacht
hinter dem Bildnis her, bis es wieder zurückgelangt in die tiefe und kühle
Kirche, die es in ihr duftendes Grab aufnimmt.
In diesem Jahre aber überschatteten trübe Wolken die fromme Feier. Seit
Wochen lastete ein dumpfer Druck über dem Lande, dunkle und unbestätigte
Nachrichten mehrten sich, daß die alten Privilegien für null und nichtig
erklärt werden sollten. Die Geusen und Protestanten begannen sich zu regen.
Böse Gerüchte kamen aus dem Lande: von den protestantischen Predigern,
die vor Tausenden auf freien Plätzen vor den Städten predigten und den
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik