Seite - 107 - in Die Liebe der Erika Ewald
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Gestalten, aber eine dumpfe Lässigkeit allen Dingen gegenüber erfüllte sie
dermaßen, daß sie nicht einmal ihren Ziehvater darum fragte. Sie dachte nur
mehr an das Kind, an jenes Kind, das längst in ihren Träumen das ihre
geworden war; alle Erinnerung verdämmerte in diesem einen Bilde. Nicht
mehr fremd schien ihr die Welt, sondern wertlos, weil sie ihr nichts zu geben
hatte; in dem Kindesgedanken verlor sich ihre liebende Hingebung und das
glühende Gottesbedürfnis ihrer Jahre. Nur die eine Stunde, da sie sich zu dem
Bilde, das ihr Gott und Kind zugleich war, hinschlich, atmete sie wirkliches
Leben, sonst war ihr Tun und Treiben nur das sehnsüchtige Irren einer
Verträumten, die an den Dingen wie eine Mondsüchtige vorübergeht. Tag für
Tag und einmal auch eine lange und von heißen Düften schwere
Sommernacht, da sie verstohlen aus dem Hause geflüchtet war und sich in die
Kirche hatte einschließen lassen, lag sie auf den Knieen vor diesem Bilde, das
ihre unwissende Seele sich zum Gott gekrönt.
Und diese Tage lasteten schwer auf ihr, denn sie versperrten ihr den Weg zu
ihrem Kinde. Während des Marienfestes erfüllten festliche Mengen die hohen
Gänge und das orgelbrausende Kirchenschiff; gekränkt und demütig wie eine
Bettlerin mußte sie sich aus dem Gewirre der Frommen wieder zum
Ausgange wenden, denn Gläubige umstanden unablässig an diesem Tage die
Marienbilder, und sie mußte fürchten erkannt zu werden. Traurig und fast
verzweifelt ging sie zurück und fühlte all die schwere Sonnenhelle des Tages
nicht, weil ihr der Anblick des Kindes versagt war. Neid und Zorn packte sie
beim Anblicke der unablässig heranpilgernden Scharen, die in frommer
Wallfahrt durch die hohe Pforte der Kathedrale in das blaue duftende Dunkel
traten.
Und trauriger wurde ihr noch der nächste Tag, da man es ihr versagte, auf
die mit gefährlichen Gestalten durchzogene Straße zu gehn. Ihre Stube, zu der
der Lärm der Schenke aufbrauste wie ein dicker häßlicher Qualm, wurde ihr
unerträglich. Ihrem verwirrten Herzen war ein Tag, da sie das Kind auf dem
Bilde nicht sehen durfte, wie eine dunkle finstere Nacht ohne Schlaf und ohne
Träume, eine Nacht nur mit Qual, Dunkel und Sehnsucht angefüllt. Noch war
sie nicht stark genug, eine Entbehrung zu tragen. Spät abends, als ihr
Ziehvater in der Schenke mit seinen Gästen saß, stieg sie ganz leise und
behutsam die Treppen hinunter. Sie tastete an die Pforte und atmete auf: sie
war offen. Leise und schon mit einem linden Gefühle lang entbehrter Lust
schlüpfte sie durch die Türe und eilte der Kathedrale zu.
Die Straßen, die sie im Laufen durchmaß, waren dunkel und voll dumpfen
Gedröhnes. Allerorts hatten sich einzelne Scharen zusammengerottet, und die
Nachricht von der Abreise des Prinzen von Oranien hatte alle zügellosen
Gewalten entfesselt. Die drohenden Worte, die tagsüber nur einzeln und
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik