Seite - 108 - in Die Liebe der Erika Ewald
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unüberlegt aufgezuckt waren, klangen jetzt wie Kommandorufe. Dazwischen
heulten die Trunkenen und sangen die Begeisterten die Rebellionslieder, daß
die Fenster dröhnten. Die Waffen wurden nicht mehr versteckt, Beile und
Haken, Schwerter und Pflöcke blitzten im unruhigen Fackelschein; wie eine
gierige Flut, die nur noch minutenlang zögert, alle Dämme mit Schaum und
Wogen zu überspringen, so ballten sich diese finsteren Massen zusammen,
denen niemand zu wehren wagte.
Esther hatte nicht acht auf diese ungebärdige Schar, ob sie auch im
Vorbeischlüpfen einmal einen rohen Arm zurückstoßen mußte, der nach
ihrem hüllenden Kopftuche neugierig und begehrlich griff. Sie fragte gar
nicht, warum solche Raserei plötzlich die Rotten erfüllte, deren Treiben und
Rufen sie nicht verstand; nur Ekel und Angst überkam sie, und ihr Schritt
beschleunigte sich mehr und mehr, bis sie endlich atemlos vor der hohen, mit
weißen Mondschleiern überwebten Kathedrale stand, die tief in die Schatten
der Häuser gebettet schlief.
Beruhigt und mit einem leise erschauernden Beben trat sie bei einer
Seitenpforte ein. Es war ganz dunkel in den hohen lichtlosen Gängen, nur um
die mattfarbigen Scheiben zitterte ein mystisches mondsilbernes Licht.
Menschenverlassen war das Gestühle. Kein Schatten schwankte in den weiten
atemstillen Räumen, und die Heiligengestalten standen vor den Altären in
schwarzem reglosen Erz. Und wie leise aufzuckendes Glühwurmblinken
flackerte aus der Tiefe, die endlos schien, das schwankende Leuchten des
ewigen Lichtes über den Kapellen. Alles war heilig und still in dieser
unbewegten Ruhe, so daß sie, erfüllt von der schweigsamen Majestät des
Raumes, ihre tappenden Schritte fürchtig dämpfte. Mühsam tastete sie sich so
zum Seitengange durch und ließ sich erschauernd, mit einem unendlichen und
doch mystisch gedämpften Jubel vor dem Bilde nieder, das in dem fließenden
Dunkel aus dichten und duftenden Wolken herabzublicken schien, unendlich
nah und unendlich ferne. Und nun dachte sie nicht mehr. Es war wie immer:
das ganze wirr-sehnsüchtige Fühlen ihrer werdenden Mädchenseele zerspann
sich in phantastische süße Träume, die Inbrunst schien allen ihren Fibern zu
entströmen und sich als berauschende Wolke ihrer Stirn zu umschmiegen.
Wie ein süßes und sanft betäubendes Gift waren diese langen Stunden
vereinter unbewußter Gläubigkeit und unbewußter Liebessehnsucht, sie
waren eine dunkle Quelle, die selige Hesperidenfrucht, die alles göttliche
Leben erhält und nährt. Denn in diesen süßen, haltlosen und
wollustdurchschauerten Träumen war alle Seligkeit. Einsam pochte ihr
erregtes Herz in die große Stille der leeren Kirche. Vom Bilde kam ein ganz
leichter, heller, gleichsam silberdunstiger Glanz, wie von einem tief innen
strahlenden Lichte, aber sie erkannte ihr Kind in den ekstatischen Träumen,
die sie von den frierenden kalten Stufen emportrugen in eine milde warme
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik