Seite - 111 - in Die Liebe der Erika Ewald
Bild der Seite - 111 -
Text der Seite - 111 -
Und wie ein Zauber war es. Dumpf schmetterte die Axt aus der kraftlos
niedersinkenden Hand zu Boden. Und aus des andern erstarrenden Faust
zischte die Fackel verlöschend nieder. Wie ein Blitz fuhr es unter diese
berauschten lärmenden Menschen. Alles war verstummt, nur einem erstarb in
der Kehle der gurgelnde Ruf: »Die Madonna … die Madonna.«
Kreidefahl und zitternd standen sie alle. Ein paar fielen betend in die
schlotternden Kniee. Keiner war, der nicht ins tiefste erschauert wäre.
Überwältigend war die wundersame Täuschung. Denn für sie gab es keinen
Zweifel, daß sich hier ein oft beglaubigtes und erzähltes Wunder ereignet
hatte, daß die Madonna, die offenbarlich des Bildes Züge trug, ihr Bild
beschützt hatte. Ihr aufgepeitschtes Gewissen riß sie mit, als sie die Züge des
Mädchens sahen, die ihnen nicht anderes schien als das verlebendigte Bild.
Und nie waren sie gläubiger, als in diesem raschen und flüchtigen
Augenblick.
Aber da stürmten schon andere herbei. Fackeln erhellten die erstarrte
Gruppe und das Mädchen, das sich halberstarrt an den Altar preßte. Lärm
überflutete das Schweigen. Rückwärts kreischte eine Dirnenstimme:
»Vorwärts … das ist ja nur das Judenmädel des Wirts.« Und jählings war der
Zauber gebrochen. In Scham und Wut stürmten die Gedemütigten hinauf.
Eine rauhe Faust stieß Esther zur Seite, daß sie taumelte. Aber sie raffte sich
auf; sie kämpfte für das Bild, als gelte es wirklich eigenes blutwarmes Leben.
Blindwütend und in altem Trotze schlug sie mit einem schweren silbernen
Leuchter gegen die Bilderstürmer; einer stürzte auffluchend hin, aber einer
sprang erbittert vor. Ein Dolch zuckte wie ein kurzer roter Blitz und Esther
taumelte nieder. Und schon regneten die Splitter und Stücke des Altars auf sie
herab, die keinen Schmerz mehr fühlte. Das Bild der Madonna mit dem Kinde
und das der Madonna mit dem wunden Herzen, beide fielen sie unter einem
einzigen wütenden Axthieb.
Und weiter stürmte das Rasen; von Kirche zu Kirche eilten die Plünderer,
die Straßen mit heillosem Lärm erfüllend. Eine furchtbare Nacht sank auf
Antwerpen herab. Schrecken und Beben schlich in die Häuser mit der Kunde,
hinter den verriegelten Toren schlugen ängstliche Herzen. Aber die Flamme
des Aufruhrs flaggte wie eine Fahne über das ganze Land. –
Auch der alte Maler erschauerte in dieser Nacht in unbändiger Angst, als er
die Nachricht vom Bildersturm vernahm. Seine Kniee zitterten, und er faßte
mit flehenden Händen ein Kruzifix, um die Rettung des Bildes zu
beschwören, das ihm doch Gottes offenbare Gnade geschenkt. Eine wilde und
finstere Nacht quälte ihn der fürchterliche Gedanke. Und im frühesten
Morgengrauen hielt es ihn nicht länger zu Hause.
Vor der Kirche schlug seine letzte Hoffnung nieder, wie eine gefällte
111
zurück zum
Buch Die Liebe der Erika Ewald"
Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik